darf man israel kritisieren?

Ich habe keine Lösung für die Waffengewalt in Israel. Viel klüger wird man auch aus den internationalen Kommentaren nicht. Bei meinen FreundInnen sehe ich Frustration, Diskussionsverweigerung („nicht schon wieder“) und in der Linken so radikale Positionen auf beiden Seiten, wie bei sonst keinem Thema. Der ORF schießt mit der Frage zum heutigen Club 2 „Darf man Juden kritisieren?“ den Vogel ab. Das zeigt schon: Kein Thema für Pragmatismus, sondern eine Herzenssache mit klaren Fronten. Solidarität mit Israel da, Solidarität mit der Bevölkerung im Gaza-Streifen da. Sogar Solidarität mit der Hamas hab ich in den letzten Tagen da und dort von Menschen gelesen, die sonst mit beiden Beinen auf nicht-terroristischem Boden stehen.

Ein paar Eckpunkte:

  1. Auschwitz

Ihr wollt hier schon nicht mehr weiterlesen? Das ist so lange her? Der Holocaust wird missbräuchlich verwendet, um Aggression zu rechtfertigen? Einen Moment, bitte. Wir sollen ernsthaft über die Existenz des Judenstaates sprechen und den Ausrottungs-Versuch unserer Großeltern-Generation ausklammern? Ich belass es gleich mit Auschwitz, aber eines muss klar sein: Vor 80 Jahren hat man den Mann, der gemeint hat, er wolle die Juden ausrotten, ausgelacht. Heute laufen im halben Mittleren Osten Gestalten herum, die den Genozid als Ziel nennen. Wir sollten sie ernst nehmen.

  1. Unterdrückung in Gaza

Die Hamas ist eine Terrororganisation. Sie ist von einer Mehrheit der Menschen in Gaza gewählt worden, aber sie ist trotzdem eine Terrororganisation. Für die Raketen der Hamas ist die Hamas verantwortlich. Nicht Netanyahu, nicht Lieberman, nicht Hillary Clinton. Das ändert nichts daran, dass die humanitäre Katastrophe im Gaza-Streifen beendet werden muss. Internationale, von israelischen Sicherheitskräften kontrollierte Hilfslieferungen müssen nach Gaza können. Warum von Israel kontrolliert? Weil wir von einem Gebiet reden, von dem aus halb Israel momentan mit nach Gaza geschmuggelten Raketen beschossen wird. Israel muss unter Wahrung der eigenen Sicherheitsinteressen seinerseits alles tun, um das Elend in Gaza zu beenden und garantieren, dass echte Hilfstransporte durchkommen. Und die Hamas muss aufhören, mutmaßliche Spione hinzurichten, Homosexuelle zu verfolgen und palästinensische ZivilistInnen als menschliche Abwehrschilder zu missbrauchen.

  1. Israel ist keine Demokratie (mehr)

Dutzendfach hab ich den Hinweis auf die bevorstehenden Wahlen gelesen. Ein nationaler Schulterschluss helfe den regierenden Rechtsparteien, deswegen hätten sie die momentane Waffengewalt provoziert. Die Waffenlobby nehme Einfluss auf politische Entscheidungen in der Knesset. Ich halte das für gar nicht so absurd. Aber wer liefert noch mal Waffentechnologie in die arabischen Diktaturen? Wer hat noch mal einen Milliardenskandal um den Ankauf militärischen Geräts am Hals? Wer hat mal ‚weapons of mass destructions‘ vermutet, wo keine waren? Wenn politische Systeme unter dem Einfluss der Waffen-Lobby keine Demokratien mehr sind, dann können wir getrost auch Frankreichs, Deutschlands, Österreichs demokratische Phase und jene der Vereinigten Staaten als abgeschlossen betrachten. Israelische Regierungen stehen und fallen, werden abgewählt und aufgelöst. In keinem Land der Region können Menschen – auch PalästinenserInnen – so frei leben, wie zwischen Haifa und Eilat.

  1. Soft Power

2000 hat Ehud Barak in Camp David Yassir Arafat eine Zwei-Staaten-Lösung mit 92% des Gebiets der Grenzen von 1967 (die eigentlich jene von 1949 sind) vorgeschlagen und die Verwaltung von Ost-Jerusalem. Die Verhandlungen sind gescheitert. Die Wahlen in Gaza und in der West Bank 2006 wären ohne Zustimmung Israels nicht möglich gewesen. Ein Jahr zuvor hatte ein rechter Ministerpräsident aus der SiedlerInnenbewegung die letzten israelischen Siedlungen im Gaza-Streifen mit Gewalt räumen lassen. Das Ergebnis der Zugeständnisse waren nicht weniger, sondern mehr Raketen aus Gaza. Das heißt nicht, dass ’soft power‘ für immer gescheitert ist. Aber wer Israel vorwirft, es neben militärischer Härte nicht auch mit Zugeständnissen probiert zu haben, muss ein bißchen Geschichte lernen.

  1. Darf man Juden und Jüdinnen kritisieren?

Ja, bitte. Religionskritik gegen JüdInnen und politische Kritik gegen den jüdischen Staat. Mit Maß und Ziel, ohne ihnen ihre eigene schreckliche Geschichte auch noch zum Vorwurf zu machen. Am lautesten kritisieren übrigens Juden und Jüdinnen Israel. Im Frühjahr haben 500.000 gegen Kürzungen im Sozialsystem und horrende Preise am Wohnungsmarkt protestiert. Die SiedlerInnen in Gaza haben sich beim Zwangs-Abzug KZ-Sterne aufgeklebt, um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen. Das find ich geschmacklos. Aber man darf und soll Israel kritisieren. Wenn man es aushält, dafür angegriffen zu werden und hin und wieder an die Geschichte erinnert zu werden (siehe 1).

 

Hier gibt’s meine Blogposts während meiner Israel-Reise im Juni 2011: Aus Crazytown Jerusalem, dem Orthodoxen-Viertel Mea Sharim  und nach dem Besuch von Yad Vashem. Meine Reisegenossin hat den freitäglichen Jesus-Marsch mitgemacht und darüber gebloggt.

neunter november. niemals vergessen.

Karl Schranz wird geboren. Heinz Fischer wird geboren. Karl Moik wird geboren. Sie haben Österreich ihren Stempel aufgedrückt. Richard Berger, Wilhelm Bauer und Richard Graubart kennt dagegen fast niemand. Die drei sterben 1938. Sie sterben in einer einzigen Nacht, gemeinsam mit 400 weiteren Juden und Jüdinnen in dem, was wir Deutsches Reich nennen. Sie sterben, weil sie Juden sind. Nur deshalb. Die Tür nach Auschwitz steht weit offen: In den Folgetagen werden 30.000 Männer in die ersten Konzentrationslager deportiert. Dachau, Buchenwald, Sachsenhausen. Gruselig klingende Namen für uns Nachgeborene.

In den kommenden Jahren werden die letzten Überlebenden sterben. In meiner Schulzeit gab es noch einige ZeitzeugInnen, die österreichischen Jugendlichen erzählten, was im Geburtsjahr des heutigen Bundespräsidenten angefangen hat in diesem Land. Das Leben ist tödlich. Aber ihre Mahnungen müssen unvergessen bleiben. 1938 ist eine Zäsur. Hitlers Barbaren merken, dass sie tun und lassen können, was sie wollen. Nach der Mordsnacht hagelt es Protestnoten. Die USA ziehen ihren Botschafter ab. Davon lassen sich die Massenvernichter, ihre HelferInnen und HelfeshelferInnen nicht irritieren. Mitteleuropa versinkt im Faschismus. Es ist, im wahrsten Sinne des Wortes, unvorstellbar für uns im Zeiten relativen Friedens Geborene.

Auschwitz ist eine Mahnung. Aber der Faschismus beginnt nicht an den Toren der Konzentrationslager. Er fängt da an, wo Menschen nach dem dritten Bier Vernichtungsfantasien formulieren. Er fängt da an, wo wir Störenfriede in dieser ach so friedlichen Gesellschaft mit Tiernamen benennen. Auschwitz fängt da an, wo systematische verbale Gewalt nicht als Vorstufe zur tatsächlichen Gewalt erkannt wird. Der Stacheldraht ist in Sichtweite, wenn staatlich organisiert Menschen deportiert werden. Wenn der Mob massive Übergriffe gegen Minderheiten hinnimmt. Der Faschismus fängt da an, wo beliebige Gruppen als Ursache staatlicher Krisen beschuldigt werden und die Hetzer deren Vertreibung, Ausweisung oder Vernichtung als Lösung verkaufen. Richard Berger, Wilhelm Bauer und Richard Graubart haben’s nicht überlebt. Es ist kein Menschenleben her.

drei bedingungen für die beschneidungsdebatte

So, jetzt hab ich mich von Berufs wegen für diesen Blog-Eintrag doch in die Beschneidungs-Debatte eingelesen. Drei Dinge, die ich wichtig find – als Prämissen für einen sensiblen, respektvollen und zielführenden Umgang mit diesem Thema.

 

  1. Murphys Gesetz

Es gibt für jedes Problem eine einfache, falsche Lösung. So wie alles, was in den letzten Wochen haudraufmäßig beschlossen wurde. Wenn die Beschneidung tatsächlich so furchtbar wäre, wie manche heute mit drastischen Bildern von blutverschmierten Babies beweisen wollen und wenn die Praxis mit einem Verbot morgen gestoppt wäre, könnte man das diskutieren. Wie war das auch schon in der Debatte über Schwangerschaftsabbruch (Achtung: keine Gleichsetzung der Eingriffe!)? Wenn ihr das verbietet, wird’s teurer, unhygienischer und gefährlicher. Wie war das mit dem Kopftuchverbot in Schulen (Achtung: keine Gleichsetzung)? Wenn ihr die Kopftücher verbietet, werden die religiösen Privateinrichtungen aus dem Boden schießen. Wenn wir von heute auf morgen keine Jungen vor der Beschneidung schützen können, dürfen wir sie auch nicht von heute auf morgen verbieten. Das schadet nämlich nur: den Betroffenen, der politischen Klima und dem interreligiösen Dialog.

  1. Identitätsthemen sind leicht für Außenstehende

Na logo find ich es absurd, dass acht Tage alte Menschen einen medizinisch unnötigen Eingriff über sich ergehen lassen müssen. Das kann ich aber auch leicht sagen, weil das nicht einer der zentralen Momente meines Glaubens ist. Da hab ich’s als Atheist sehr einfach. Dass sich Juden und Jüdinnen angegriffen fühlen wenn ein (wenn auch fragwürdiges) zentrales Element ihrer Glaubenslehre, das 65 Jahre lang unbestritten war in diesem Land, auf einmal Objekt einer Verbotsdebatte wird. Das rechtfertigt nicht den mehr als schrägen Holocaust-Vergleich von Ariel Muzicant. Aber es erklärt die Emotion der Glaubensvertreter, wenn das Judentum und der Islam von heute auf morgen von vielen ihrer eigentlichen BündnispartnerInnen, der pluralistischen Linken, so massiv stark angegriffen werden.

  1. „Genitalverstümmelung“ ist nicht gleich Genitalverstümmelung

Die männliche „Genitalverstümmelung“ zieht: Ich kann mich an keine so lebhafte Debatte im deutschen Sprachraum über weibliche Genitalverstümmelung erinnern, seit 15 Jahren nicht. Trotzdem führen zahlreiche selbsternannte Gleichberechtigungskämpfer den Vergleich der Eingriffe spazieren. Das ist völlig unpassend. Einerseits, weil die weibliche Genitalverstümmelung offenbar nie so viele Leute interessiert hat, wie jetzt die männliche Beschneidung. Und zweitens, weil der Vergleich schlicht nicht stimmt. Die Entfernung von Klitoris und Schamlippen hat mit der Beschneidung der Vorhaut soviel zu tun, wie eine Zahnfüllung mit einer Wurzelbehandlung.

Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann man gemeinsam mit Vertretern und hoffentlich auch Vertreterinnen der Glaubensgemeinschaften einen Dialog über die männliche Beschneidung führen. Haudrauf und Fahrdrüber befriedigt zwar die Seelen vieler Rechter und leider auch mancher Linker. Mit dem Kindeswohl hat das aber überhaupt nichts mehr zu tun.

chronologie einer projektion

1. Dezember 1966, Bonn: Kurt Georg Kiesinger wird Bundeskanzler, der erste einer großen Koalition. Das Problem daran: Kiesinger war hochrangiger Beamter im Reichsaußenministerium gewesen und bereits 1934 NSDAP-Mitglied geworden. Das sieht auch Günther Grass so: „Wie sollen wir der gefolterten und ermordeten Widerstandskämpfer, wie sollen wir der Toten von Auschwitz und Treblinka gedenken, wenn Sie, der Mitläufer von damals, es wagten, heute hier die Richtlinien der Politik zu bestimmen?“ 40 Jahre voller politisch-moralischem Engagement später gibt Grass zu, dass er selbst SS-Mitglied gewesen war. Drei Tage später erscheint sein Roman „Beim Häuten der Zwiebel“.

7. März 1991, Tel Aviv/Ramat Gan: Scud-Raketen aus dem Irak schlagen in Wohngebieten ein. Saddam Hussein versucht verzweifelt, Israel in den Zweiten Golfkrieg hineinzuziehen, um die arabische Koalition seiner Gegner zum Bröckeln zu bringen. In Berlin fragt der israelische Friedensaktivist Yaram Kaniak bei einer Diskussionsveranstaltung den über den Weltfrieden referierenden Günther Grass, warum er bei den Demonstrationen vor deutschen Firmenzentralen fehle, in denen das Gift für die irakischen Scud-Raketen hergestellt wird, die auf Ramat Gan und Tel Aviv fliegen. Grass redet von da an nur mehr an Kaniuk vorbei ins Publikum, redet von „Blut für Öl“ und von der Unterdrückung der PalästinenserInnen. Kaniuk erinnert sich: „…nach etwa zwanzig Minuten also kam der Junge zum Vorschein, der einst der Hitlerjugend angehört, jener junge Mann, der tief fliegende amerikanische Flugzeuge beschossen hatte; die Blechtrommel verwandelte sich in jemand anderen, in eine Stahltrommel vielleicht … Zum Schluss fiel alles ab und wurde vom Winde verweht, wir blieben dort nackt, ich war mein Großvater, er sein Großvater, der Deutsche gegen den Juden.“

26. August 2011, Tel Aviv: In einem Interview mit dem deutschen Historiker Tom Segev spricht Grass von 6 Millionen (!) Deutschen, die im Zweiten Weltkrieg als Kriegsgefangene liquidiert (!) worden wären – im Original: Grass: „My book ‚From the Diary of a Snail‘ also deals with the Holocaust, and I am happy to say that my grandchildren are taking an interest in the period of Nazism.“ – Segev: „In the Holocaust?“ Grass: „Also. But the madness and the crime were not expressed only in the Holocaust and did not stop at the end of the war. Of eight million German soldiers who were captured by the Russians, perhaps two million survived and all the rest were liquidated.“ Tatsächlich haben von etwa 3 Millionen deutschen Kriegsgefangenen etwa eine Million nicht überlebt. Die deutschen Kriegsgefangenen sind großteils, ebenso wie die sowjetische Zivilbevölkerung in diesen Regionen, verhungert.

4. April 2012, München: Ein in der „Süddeutschen Zeitung“ veröffentlichtes Gedicht bezeichnet Israel als die Bedrohung für den Weltfrieden und als atomare Vernichtungsbedrohung für den Iran. Verantwortlich dafür sei ein von Deutschland nach Israel zu lieferendes U-Boot, von dem aus auch Atom-Sprengköpfe abgeschickt werden können. Die „Dolphin“-Boote besitzen allerdings nur Zweitschlag-Kompetenz. Den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadi-Nejad, der Israel mehrmals mit der physischen Vernichtung gedroht hatte und dessen autoritäres Regime gerade an der Entwicklung von Atomwaffen arbeitet, verharmlost der deutsche Dichter Günther Grass als „Maulhelden“.

„in polen soll es auch ganz gut sein“

Quer durch Europa ist es gereist, das Mädchen, das diesen Satz geschrieben hat. Es sollte ihr letztes Lebenszeichen sein. Die Reise startet vor 73 Jahren, kurz bevor Innsbruck für eine Nacht das Zentrum des antisemitischen Terrors wird. Als Richard Berger von fünf SS-Männern aus der Anichstraße 13 entführt, zum Innufer gebracht, dort mit Steinen erschlagen und seine Leiche in den Inn geworfen wird, ist Ilse Brüll schon in München. Die 14-jährige sucht dort Schutz bei ihrer Tante, während Richard Graubart in seiner Wohnung in der Gänsbacherstraße 4 von sechs SS-Männern überfallen und mit Messerstichen von hinten ermordet wird. Die Wohnung der Familie Graubart wird wenige Wochen später zur Bürgermeisterwohnung umfunktioniert. Im Nachbarhaus, selbe Nacht, selbes Szenario, Wilhelm Bauer verblutet nach den Messerstichen der Nazis. Ilse Brüll wird auch nie erfahren, dass Josef Adler, ein Bekannter ihrer Eltern, durch Schläge auf den Kopf mit Steinen gelähmt wird und an den Folgen zwei Wochen später stirbt.

Das alles ist der 9. November 1938, heute vor 73 Jahren. Reichspogromnacht in Innsbruck. Das systematische Judenmorden beginnt. Die ersten ZivilistInnen bekommen mit, was 10 Jahre später niemand gesehen und gehört haben will: Dass jüdische Familien fliehen oder verschleppt werden. Dass Stoßtrupps in Braunhemden in Wohnungen eindringen, Fensterscheiben einwerfen. Dass jüdische Kinder wie Ilse Brüll nicht mehr in die Schule kommen, weil ihre Eltern versuchen, sie in Sicherheit zu bringen. Ilse reist 1938 von München nach Wien, bei ihrer Cousine Inge wähnt sie ihre Münchner Tante sicherer. Zwei Monate später, weiter nach Rotterdam für einen Monat, dann ein katholisches Heim bei Eindhoven. Der sicherste Platz, der sich finden lässt, glauben die Brülls. Was wie eine Reise klingt, ist eine gehetzte Flucht, den Feind ständig im Nacken. Und der kommt dann auch, überfällt die Niederlande. Ilse Brüll wird nach Westerbork verschleppt, dem Zwischenstopp nach Auschwitz. Wir kennen das Lager von Anne Frank.

Aus Westerbork schreibt die Innsbrucker Jüdin am 30. August 1942 an ihre Cousine: Ihr Gesuch, in den Niederlanden bleiben zu dürfen sei abgelehnt worden, sie werde nach Polen gebracht. Aber, „in Polen soll es auch ganz gut sein“, ihre Familie solle sich keine Sorgen machen. Es ist das letzte Lebenszeichen der 18jährigen. Sie stirbt wenig später im Gas von Auschwitz.

Lang ist das alles nicht her. Ilse Brüll wäre heute 87.

 

Post scriptum: Die Stadt Innsbruck bekennt sich sukzessive, spät aber doch zu ihrer historischen Verantwortung für die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus. Nach Ilse Brüll ist seit 2010 eine Straße in der Innsbrucker Innenstadt benannt, an ihrer früheren Schule, dem Gymnasium Sillgasse, hängt seit 2008 auf Initiative von Dr. Peter Stöger eine Gedenktafel. Die Stadt Innsbruck erneuert ihre Straßenschilder um kurze Texte, um wen es sich bei den NamensgeberInnen handelt. Wie die Stadt mit der Ottokar-Kernstock-Gasse umgeht, ist noch nicht klar. Das Projekt „Stolpersteine“ ist noch nicht in der Tiroler Landeshauptstadt angekommen.

die radikalen

„Gedolei Yisrael Shlita have ruled that it is halachically proper for Women not to go to the Kosel on Shavuos night“ – der religiöse Rat hat beschlossen, dass es dem jüdischen Gesetz entsprechend ist, dass Frauen am Shavoat-Fest nicht zur Klagemauer gehen. Das steht auf einer der riesengroßen Tafeln, die im von ultraorthodoxen Jüdinnen und Juden bewohnten Stadtteil Mea Sharim an der Grenze zu Ostjerusalem stehen. Hier, wo man sich vorkommt, wie in einem jüdischen Schtetl im 19. Jahrhundert, im am stärksten wachsenden Stadtteil von ganz Israel. Wer in Mea Sharim spazieren geht, muss sich adäquat anziehen. Für Frauen heißt das: geschlossene Blusen mit langen Ärmeln, langes Kleid und keine eng-anliegenden Stücke. Andernfalls warnt der ‚Lonely planet‘ davor, dass man schon einmal angespuckt oder – das erzählen Reisende – mit Steinen beworfen werden kann.

Die Radikalen auf palästinensischer Seite sind bekannt: Es sind die Hamas, die Hisbollah und der Islamische Djihad, die Raketenabschussraketen in Kindergärten platzieren, um menschliche Schutzschilder für ihre mitunter tödlichen Waffen gleich inklusive zu haben. Es gibt die Radikalen aber auch auf jüdischer Seite. Wohlgemerkt: Es ist natürlich ein Unterschied, ob man bei inadäquater Kleidung beschimpft oder angegriffen wird, oder als Kindergartenkind im grenznahen Sderot alle drei Tage in einen Betonbunker fliehen muss – die Radikalen arbeiten mit verschiedenen Mitteln. Aber trotzdem haben die Radikalen Einiges gemein: Sie lehnen das Existenzrecht des jeweiligen religiösen Gegenübers in Jerusalem ab. Sie lehnen den Staat Israel ab: Die ultraorthodoxen JüdInnen, weil sie auf die Ankunft des „Erlösers“ warten und Israel erst dann entstehen kann. Die radikalen PalästinenserInnen, weil sie finden, dass alle Jüdinnen und Juden am besten im Meer aufgehoben sind. Und die schlimmste Gemeinsamkeit: Beide werden mehr.

Das historische Zeitfenster für eine friedliche Zweistaatenlösung ist zugegangen, erklären uns auf unserer Israel-Reise die gut Informierten. Denn die Radikalen auf beiden Seiten bekommen wesentlich mehr Kinder, als die Moderaten. Und die wenigsten Kinder schaffen den Absprung aus ihren abgeriegelten Stadtteilen und Sozialstrukturen in Jerusalem und Gaza, in Hebron und in Ramallah. 60% der ErstlklasslerInnen in Jerusalem sind heute Kinder ultraorthodoxer JüdInnen. In Gaza organisiert die Hamas Hochzeiten, bei denen die Ehemänner mit jungen Mädchen an der Hand auf große Plätze einmarschieren und bei denen Musik, Vermischung verschiedener Familien und natürlich Alkohol verboten ist. Nicht verschleierte Frauen trifft man außer in Ramallah fast nirgends in den von der Autonomiebehörde beaufsichtigten Regionen. Die Moderaten auf beiden Seiten werden weniger: Soviel ist nach zwei Wochen in Israel augenscheinlich.

Das historische Zeitfenster: Die Rabin-Ära Anfang der 90er, als die Frontstellung zwischen dem politischen Islam und dem Rest der Welt noch nicht erfunden war, als die Rekrutierungsquote im israelischen Militär auf knapp 80% gesunken ist – für dortige Verhältnisse eine kriegsmüde Generation. Die Prognosen für eine friedliche Lösung des Konflikts sind heute umso trister, als auf beiden Seiten politische Kräfte an der Macht sind, die ohne die Unterstützung der Radikalen nicht regieren könnten: Da die wachsende Hamas im Gazastreifen und in der West Bank, dort Bibi Netanyahu und der Likud, die sich aus Rücksicht auf die SiedlerInnen mit Händen und Füßen gegen eben diese Zwei-Staaten-Lösung wehren.

Und hier sollte jetzt ein kluger Satz stehen, der eine Lösung für dieses Dilemma anbietet. Viel mehr als die Bestätigung des Befunds, dass Religion Opium fürs Volk ist, kann ich aber auch nicht liefern.

sie haben nicht gewonnen

 

Zwei Wochen vor Ort: Von meiner grundsätzlichen Solidarität mit dem Staat, den die Juden und Jüdinnen geschaffen haben, bin ich nicht abgekommen. Angesichts der Bedrohungsszenarien rundum kann man für die Existenz eines israelischen Staats eben nur ganz oder gar nicht sein. Und von rundum, von Ahmadinejad und Assad, von Hamas und Hisbollah, höre ich nur „gar nicht“.

Was nicht heißt, dass alles eitel Wonne ist in dem Land, das ich gesehen habe. Es ist nicht alles schwarz oder weiß, zwischen dem Ballermann Eilat und der Technologiemetropole Haifa, zwischen Arafats Ramallah und der Wüstenstadt Beer Sheva. 300.000 SiedlerInnen leben außerhalb der Grenzen von 1949. Manche davon in Kleinstädten in davor unbesiedeltem Land wie im 30.000 EinwohnerInnen starken Maale Adumim östlich von Jerusalem, manche zu wenigen hunderten mitten in palästinensischen Städten wie Hebron. Tendenziell würd ich sagen: Dass tausende SoldatInnen radikale SiedlerInnen schützen, die sich mitten in palästinensischen Städten auf das biblische Recht der JüdInnen auf Galiläa berufen, ist nicht zu rechtfertigen. Aber dass unbesiedeltes Land erschlossen wird, solange niemand vertrieben wird, ist zu rechtfertigen. So ganz einfach ist das halt nicht in Israel: Die Politik hat ihre erstaunlichsten Wendungen hinter sich – vom völligen Rückzug aus dem Gaza-Streifen unter einem rechten Ministerpräsidenten bis zur Beteiligung der linken Arbeiterpartei unter Ehud Barak an der aktuellen Rechtskoalition. Es ist alles ein bißchen zu kompliziert für einfache Lösungen.

Und dann gibt’s neben 45minütigen Grenzkontrollen auf der Busfahrt von Ramallah nach Jerusalem und einem dreistündigen Kontroll-Marathon vor der Abreise vom Flughafen Ben Gurion eben auch noch Dinge, die augenscheinlich funktionieren. Im interkulturellen Alltag nämlich: Die vielbeschworene enorme Militärpräsenz der Israelis in Ostjerusalem – dort, wo die jüdische Klagemauer, die christliche Grabeskirche und die muslimische Al-Aqsa-Moschee einen sprichwörtlichen Steinwurf voneinander entfernt sind – entpuppt sich an normalen Tagen als Märchen. Man kann auch schon einmal 20 Minuten kreuz und quer durch die engen Altstadtgassen spazieren, ohne einer einzigen Patrouille zu begegnen. Am Weg trifft man orthodoxe Juden, die muslimische Straßenhändler auf arabisch nach der Uhrzeit fragen und muslimische Restaurantbesitzer, die auf hebräisch ihre Köstlichkeiten anpreisen oder auf englisch den Weg zu den christlichen Heiligtümern am Ölberg erklären. An der Klagemauer werfen kleine Buben mit Schläfenlocken hinter einem Balkon versteckt mit Grasballen nach einem Rabbi und amüsieren sich auf jiddisch köstlich über ihren Streich. Und am Hotspot der armenischen Community in der Altstadt ist ein dicker Afrikaner genauso vertrauter Gast in einer Pizzeria, wie eine alte russische Frau, die ohne Hilfe ihrer Familie die steilen Alstadtstiegen nicht mehr bewältigen kann. Bei den allermeisten Menschen in Israel, die keine Kippa, ein großes Kreuz am Hals oder ein Kopftuch tragen, erkennt man sowieso nicht, ob sie JüdInnen, MuslimInnen, ChristInnen, Bahai oder ganz etwas anderes sind.

Manchmal ist der Pathos der israelischen Geschichtsschreibung kaum zu ertragen. Das merkt man an Denkmälern, bei Führungen und in Gedenkstätten. Vor allem der Brückenschlag zur aktuellen Politik greift manchmal zu weit: Nein, die Shoah rechtfertigt nicht jede einzelne militärische Aktion des  Militärs von Dschenin bis nach Gaza. Aber nach einem Besuch in Yad Vashem ist mir nach vier Tagen in der durchgeknallten Crazytown Jerusalem eines wieder klarer: Zur grundsätzlichen Solidarität mit Israel und seiner Politik kommt eine bedingungslose Solidarität mit der Existenz dieses Schmelztiegels der Kulturen, wo die Juden und Jüdinnen zusammengekommen sind, nachdem sie über die ganze Welt zerstreut worden sind und ihre penibel geplante Vernichtung bevorstand. Israel ist nicht nur ein Land, über dessen konkrete Politik sich mit guten Argumenten streiten lässt. Es ist eben auch der Beweis dafür, dass die Nazis nicht gewonnen haben.

bisher in meinem Israel-Thread: Crazytown

hier gibt’s den Bericht von meiner Reisegenossin Lore, die Freitagnachmittag die Via Dolorosa mit 300 ChristInnen abmarschiert ist.

demnächst bei mir: Die Radikalen

crazytown

Man sieht es ihnen nicht an. Viele Male haben wir uns in Tel Aviv zugefluestert, „War das jetzt ein Jude oder ein Muslim.“ Das auf den ersten Blick nicht unterscheiden zu koennen, die Desorientierung ob der Buntheit der Bevoelkerung, das ist irgendwie schoen. Ganz besonders in einem Land, das nur mit Krieg und Konflikten in den Medien vorkommt. Aber: das ist halt Tel Aviv. Die liberale Partymetropole am Mittelmeer.

Und jetzt Jerusalem: die Heimstadt der drei monotheistischen Weltreligionen. Die Stadt, in der man sich am Nachmittag im ultraorthodoxen Stadtteil Mea Sharim vorkommt, wie im 18. Jahrhundert – Frauen werden auf riesengrossen Plakaten aufgefordert, hier nicht in Hosen oder mit unbedeckten Schultern herumzuspazieren, alle Maenner tragen schwarze Anzuege und Huete. Verhuetung ist verboten. Menschen, die so alt wie Lore und ich sind, haben sechs oder sieben Kinder. Es gibt keine Kaffeehaeuser in Mea Sharim, das Leben findet ausschliesslich im Privaten statt.

Eine Querstrasse weiter, hinter dem Damaskus-Tor, eine andere Welt. Das muslimische Leben in Ost-Jerusalem spielt sich auf der Strasse ab, hier spielen Kinder Fussball, Kunden feilschen lauthals mit Strassenhaendlern um Preise fuer alles von Ramsch bis zu Gemuese. Noch eine Ecke weiter, die Altstadt von Ost-Jerusalem. Schmale Gassen voller Gerueche und voller Leben. Und alle 20 Meter zwei bewaffnete israelische Soldaten. Die sind in Ost-Jerusalem uebrigens meistens keine Juden und Juedinnen, sondern DrusInnen, eine fruehe Abspaltung des Islam.

Und abends, ja abends treffen wir in dieser frommen Stadt die ersten Kippa-Traeger, die sich so gar nicht anstaendig benehmen. Amerikanische Juden und Juedinnen geben sich in der Ben Yehuda Street voellig enthemmt dem Alkohol hin, es sind fast ausschliesslich Menschen aus den Staaten. Sie sind fuer ein Jahr in Israel, um in Jeshiwa-Schulen den juedischen Lebensstil kennenzulernen. In einer Tanzbar seh ich spaeter doch noch einen israelischen Mann, der sich gehen laesst. Er hat eine Soldaten-Uniform an. Der Mann will eine Frau kuessen, mit der er gerade innig getanzt hat, muss davor aber noch sein Maschinengewehr ablegen, das ueber seiner Schulter haengt. Sie nuetzt die Zeit, um ihn zu fragen, welcher Religion er angehoert. Er ist muslimischer Israeli – womit sich das mit dem Kuessen auch wieder erledigt hat.