die radikalen

„Gedolei Yisrael Shlita have ruled that it is halachically proper for Women not to go to the Kosel on Shavuos night“ – der religiöse Rat hat beschlossen, dass es dem jüdischen Gesetz entsprechend ist, dass Frauen am Shavoat-Fest nicht zur Klagemauer gehen. Das steht auf einer der riesengroßen Tafeln, die im von ultraorthodoxen Jüdinnen und Juden bewohnten Stadtteil Mea Sharim an der Grenze zu Ostjerusalem stehen. Hier, wo man sich vorkommt, wie in einem jüdischen Schtetl im 19. Jahrhundert, im am stärksten wachsenden Stadtteil von ganz Israel. Wer in Mea Sharim spazieren geht, muss sich adäquat anziehen. Für Frauen heißt das: geschlossene Blusen mit langen Ärmeln, langes Kleid und keine eng-anliegenden Stücke. Andernfalls warnt der ‚Lonely planet‘ davor, dass man schon einmal angespuckt oder – das erzählen Reisende – mit Steinen beworfen werden kann.

Die Radikalen auf palästinensischer Seite sind bekannt: Es sind die Hamas, die Hisbollah und der Islamische Djihad, die Raketenabschussraketen in Kindergärten platzieren, um menschliche Schutzschilder für ihre mitunter tödlichen Waffen gleich inklusive zu haben. Es gibt die Radikalen aber auch auf jüdischer Seite. Wohlgemerkt: Es ist natürlich ein Unterschied, ob man bei inadäquater Kleidung beschimpft oder angegriffen wird, oder als Kindergartenkind im grenznahen Sderot alle drei Tage in einen Betonbunker fliehen muss – die Radikalen arbeiten mit verschiedenen Mitteln. Aber trotzdem haben die Radikalen Einiges gemein: Sie lehnen das Existenzrecht des jeweiligen religiösen Gegenübers in Jerusalem ab. Sie lehnen den Staat Israel ab: Die ultraorthodoxen JüdInnen, weil sie auf die Ankunft des „Erlösers“ warten und Israel erst dann entstehen kann. Die radikalen PalästinenserInnen, weil sie finden, dass alle Jüdinnen und Juden am besten im Meer aufgehoben sind. Und die schlimmste Gemeinsamkeit: Beide werden mehr.

Das historische Zeitfenster für eine friedliche Zweistaatenlösung ist zugegangen, erklären uns auf unserer Israel-Reise die gut Informierten. Denn die Radikalen auf beiden Seiten bekommen wesentlich mehr Kinder, als die Moderaten. Und die wenigsten Kinder schaffen den Absprung aus ihren abgeriegelten Stadtteilen und Sozialstrukturen in Jerusalem und Gaza, in Hebron und in Ramallah. 60% der ErstlklasslerInnen in Jerusalem sind heute Kinder ultraorthodoxer JüdInnen. In Gaza organisiert die Hamas Hochzeiten, bei denen die Ehemänner mit jungen Mädchen an der Hand auf große Plätze einmarschieren und bei denen Musik, Vermischung verschiedener Familien und natürlich Alkohol verboten ist. Nicht verschleierte Frauen trifft man außer in Ramallah fast nirgends in den von der Autonomiebehörde beaufsichtigten Regionen. Die Moderaten auf beiden Seiten werden weniger: Soviel ist nach zwei Wochen in Israel augenscheinlich.

Das historische Zeitfenster: Die Rabin-Ära Anfang der 90er, als die Frontstellung zwischen dem politischen Islam und dem Rest der Welt noch nicht erfunden war, als die Rekrutierungsquote im israelischen Militär auf knapp 80% gesunken ist – für dortige Verhältnisse eine kriegsmüde Generation. Die Prognosen für eine friedliche Lösung des Konflikts sind heute umso trister, als auf beiden Seiten politische Kräfte an der Macht sind, die ohne die Unterstützung der Radikalen nicht regieren könnten: Da die wachsende Hamas im Gazastreifen und in der West Bank, dort Bibi Netanyahu und der Likud, die sich aus Rücksicht auf die SiedlerInnen mit Händen und Füßen gegen eben diese Zwei-Staaten-Lösung wehren.

Und hier sollte jetzt ein kluger Satz stehen, der eine Lösung für dieses Dilemma anbietet. Viel mehr als die Bestätigung des Befunds, dass Religion Opium fürs Volk ist, kann ich aber auch nicht liefern.

sie haben nicht gewonnen

 

Zwei Wochen vor Ort: Von meiner grundsätzlichen Solidarität mit dem Staat, den die Juden und Jüdinnen geschaffen haben, bin ich nicht abgekommen. Angesichts der Bedrohungsszenarien rundum kann man für die Existenz eines israelischen Staats eben nur ganz oder gar nicht sein. Und von rundum, von Ahmadinejad und Assad, von Hamas und Hisbollah, höre ich nur „gar nicht“.

Was nicht heißt, dass alles eitel Wonne ist in dem Land, das ich gesehen habe. Es ist nicht alles schwarz oder weiß, zwischen dem Ballermann Eilat und der Technologiemetropole Haifa, zwischen Arafats Ramallah und der Wüstenstadt Beer Sheva. 300.000 SiedlerInnen leben außerhalb der Grenzen von 1949. Manche davon in Kleinstädten in davor unbesiedeltem Land wie im 30.000 EinwohnerInnen starken Maale Adumim östlich von Jerusalem, manche zu wenigen hunderten mitten in palästinensischen Städten wie Hebron. Tendenziell würd ich sagen: Dass tausende SoldatInnen radikale SiedlerInnen schützen, die sich mitten in palästinensischen Städten auf das biblische Recht der JüdInnen auf Galiläa berufen, ist nicht zu rechtfertigen. Aber dass unbesiedeltes Land erschlossen wird, solange niemand vertrieben wird, ist zu rechtfertigen. So ganz einfach ist das halt nicht in Israel: Die Politik hat ihre erstaunlichsten Wendungen hinter sich – vom völligen Rückzug aus dem Gaza-Streifen unter einem rechten Ministerpräsidenten bis zur Beteiligung der linken Arbeiterpartei unter Ehud Barak an der aktuellen Rechtskoalition. Es ist alles ein bißchen zu kompliziert für einfache Lösungen.

Und dann gibt’s neben 45minütigen Grenzkontrollen auf der Busfahrt von Ramallah nach Jerusalem und einem dreistündigen Kontroll-Marathon vor der Abreise vom Flughafen Ben Gurion eben auch noch Dinge, die augenscheinlich funktionieren. Im interkulturellen Alltag nämlich: Die vielbeschworene enorme Militärpräsenz der Israelis in Ostjerusalem – dort, wo die jüdische Klagemauer, die christliche Grabeskirche und die muslimische Al-Aqsa-Moschee einen sprichwörtlichen Steinwurf voneinander entfernt sind – entpuppt sich an normalen Tagen als Märchen. Man kann auch schon einmal 20 Minuten kreuz und quer durch die engen Altstadtgassen spazieren, ohne einer einzigen Patrouille zu begegnen. Am Weg trifft man orthodoxe Juden, die muslimische Straßenhändler auf arabisch nach der Uhrzeit fragen und muslimische Restaurantbesitzer, die auf hebräisch ihre Köstlichkeiten anpreisen oder auf englisch den Weg zu den christlichen Heiligtümern am Ölberg erklären. An der Klagemauer werfen kleine Buben mit Schläfenlocken hinter einem Balkon versteckt mit Grasballen nach einem Rabbi und amüsieren sich auf jiddisch köstlich über ihren Streich. Und am Hotspot der armenischen Community in der Altstadt ist ein dicker Afrikaner genauso vertrauter Gast in einer Pizzeria, wie eine alte russische Frau, die ohne Hilfe ihrer Familie die steilen Alstadtstiegen nicht mehr bewältigen kann. Bei den allermeisten Menschen in Israel, die keine Kippa, ein großes Kreuz am Hals oder ein Kopftuch tragen, erkennt man sowieso nicht, ob sie JüdInnen, MuslimInnen, ChristInnen, Bahai oder ganz etwas anderes sind.

Manchmal ist der Pathos der israelischen Geschichtsschreibung kaum zu ertragen. Das merkt man an Denkmälern, bei Führungen und in Gedenkstätten. Vor allem der Brückenschlag zur aktuellen Politik greift manchmal zu weit: Nein, die Shoah rechtfertigt nicht jede einzelne militärische Aktion des  Militärs von Dschenin bis nach Gaza. Aber nach einem Besuch in Yad Vashem ist mir nach vier Tagen in der durchgeknallten Crazytown Jerusalem eines wieder klarer: Zur grundsätzlichen Solidarität mit Israel und seiner Politik kommt eine bedingungslose Solidarität mit der Existenz dieses Schmelztiegels der Kulturen, wo die Juden und Jüdinnen zusammengekommen sind, nachdem sie über die ganze Welt zerstreut worden sind und ihre penibel geplante Vernichtung bevorstand. Israel ist nicht nur ein Land, über dessen konkrete Politik sich mit guten Argumenten streiten lässt. Es ist eben auch der Beweis dafür, dass die Nazis nicht gewonnen haben.

bisher in meinem Israel-Thread: Crazytown

hier gibt’s den Bericht von meiner Reisegenossin Lore, die Freitagnachmittag die Via Dolorosa mit 300 ChristInnen abmarschiert ist.

demnächst bei mir: Die Radikalen

crazytown

Man sieht es ihnen nicht an. Viele Male haben wir uns in Tel Aviv zugefluestert, „War das jetzt ein Jude oder ein Muslim.“ Das auf den ersten Blick nicht unterscheiden zu koennen, die Desorientierung ob der Buntheit der Bevoelkerung, das ist irgendwie schoen. Ganz besonders in einem Land, das nur mit Krieg und Konflikten in den Medien vorkommt. Aber: das ist halt Tel Aviv. Die liberale Partymetropole am Mittelmeer.

Und jetzt Jerusalem: die Heimstadt der drei monotheistischen Weltreligionen. Die Stadt, in der man sich am Nachmittag im ultraorthodoxen Stadtteil Mea Sharim vorkommt, wie im 18. Jahrhundert – Frauen werden auf riesengrossen Plakaten aufgefordert, hier nicht in Hosen oder mit unbedeckten Schultern herumzuspazieren, alle Maenner tragen schwarze Anzuege und Huete. Verhuetung ist verboten. Menschen, die so alt wie Lore und ich sind, haben sechs oder sieben Kinder. Es gibt keine Kaffeehaeuser in Mea Sharim, das Leben findet ausschliesslich im Privaten statt.

Eine Querstrasse weiter, hinter dem Damaskus-Tor, eine andere Welt. Das muslimische Leben in Ost-Jerusalem spielt sich auf der Strasse ab, hier spielen Kinder Fussball, Kunden feilschen lauthals mit Strassenhaendlern um Preise fuer alles von Ramsch bis zu Gemuese. Noch eine Ecke weiter, die Altstadt von Ost-Jerusalem. Schmale Gassen voller Gerueche und voller Leben. Und alle 20 Meter zwei bewaffnete israelische Soldaten. Die sind in Ost-Jerusalem uebrigens meistens keine Juden und Juedinnen, sondern DrusInnen, eine fruehe Abspaltung des Islam.

Und abends, ja abends treffen wir in dieser frommen Stadt die ersten Kippa-Traeger, die sich so gar nicht anstaendig benehmen. Amerikanische Juden und Juedinnen geben sich in der Ben Yehuda Street voellig enthemmt dem Alkohol hin, es sind fast ausschliesslich Menschen aus den Staaten. Sie sind fuer ein Jahr in Israel, um in Jeshiwa-Schulen den juedischen Lebensstil kennenzulernen. In einer Tanzbar seh ich spaeter doch noch einen israelischen Mann, der sich gehen laesst. Er hat eine Soldaten-Uniform an. Der Mann will eine Frau kuessen, mit der er gerade innig getanzt hat, muss davor aber noch sein Maschinengewehr ablegen, das ueber seiner Schulter haengt. Sie nuetzt die Zeit, um ihn zu fragen, welcher Religion er angehoert. Er ist muslimischer Israeli – womit sich das mit dem Kuessen auch wieder erledigt hat.