„Längst haben die kreativen, oft akademisch ausgebildeten und weltgewandten Prekären viel mehr gemein mit den auf Stunde bezahlten Supermarktregaleinräumern, den per Zeitarbeit verliehenen Security-Bären und den Sieben-Tage-die-Woche Wurstbudenverkäufern, über die sie mitfühlende Reportagen schreiben, aufrüttelnde Sozialstudien erstellen oder deprimierende Reality-Dokus drehen, als mit den Agenturchefs, Etatbewilligern oder Ressortleitern, von denen sie sich Aufträge erhoffen und ein bisschen Honorar.“
Beobachten, darüber schreiben und damit ein bißchen die Welt verändern: Diesen Anspruch und seinen Niedergang beschreibt Katja Kullmann in ihrem Roman „Echtleben“. Das Buch trifft mich im doppelten Sinn: Es trifft mich, weil ich das auch gern machen will. Und es trifft mich, weil sich das nicht einmal bei Katja Kullmann, die exzellent schreibt, analysiert und das sogar gedruckt herausgeben kann, als Verdienstmodell taugt.
„Pragmatismus ist das Zauberwort. Viele benutzen es wie ein Bußgebet. ‚Man muss die Dinge pragmatisch sehen‘, sagen sie, wenn es eng wird, also ständig, rund um die Uhr, immer wieder. ‚Schwierige Umstände erfordern pragmatische Lösungen.‘ Wenn die Formel Pragmatismus fällt, blickt man sich von Erwachsenem zu Erwachsenem in die Augen und weiß: Es ist eine Lüge. Der Pragmatismus ist eine ideelle Bankrotterklärung. Konsens besteht darin, nicht auf diesem Faktum herumzureiten. Das Leben, die Politik, die Liebe programmatisch pragmatisch anzugehen bedeutet: Man hat keinen blassen Schimmer, worum es eigentlich geht. Man hat auch das Suchen und Sich-Kümmern aufgegeben. Man überspielt eine verheerende Inhaltsleere mit hektischem Flügelschlagen, von Quartal zu Quartal, und dekoriert das Vakuum mit gelegentlichen Erfolgsmeldungen und Urlaubsfotos.“
Beobachten, darüber schreiben und damit ein bißchen die Welt verändern können ältere Herrschaften, die sich mit, so sagen sie, „richtiger“ Arbeit dieses Privileg verdient haben. Schuld daran, dass wir das nicht können, sind wir selbst und unsere Moderne, sagen sie uns. Dabei sind es ihre Anforderungen, die uns gängeln. Vor 40 Jahren musste man als EndzwanzigerIn nicht im Idealfall drei Praktika in drei verschiedensprachigen Ländern gemacht, zwei Studien abgeschlossen und viereinhalb Jahre einschlägige Berufserfahrung in zwei verschiedenen Branchen haben, um sich Chancen bei einer Bewerbung ausrechnen zu können. Schuld am Prekariat seien Maßlosigkeit und Desorientierung, Werteverfall, Internationalis-Muss und Ego-Trip meiner Generation, moralisieren sie. Vor 20 Jahren hatten Print-Zeitungen noch ordentliche Redaktionen mit vielen guten Arbeitsplätzen, weil wir Jungen noch nicht das Internet erfunden, weiterentwickelt, Informationsfreiheit gefordert und in vielen Bereichen durchgesetzt haben. Selber schuld, wir WeltverbessererInnen. Vor 20 Jahren waren universitäre Forschungsprojekte noch drittmittelfrei ordentlich ausgestattet, bevor wir Jungen in immer größeren Massen auf die Unis strömten und die Lehre zerstörten, hören wir.
„Der ideale Staatsbürger ist eine Chimäre aus Reihenhausbesitzer und Wanderarbeiter. Er soll sich fortpflanzen, ein Ehrenamt in der Nachbarschaft übernehmen und erkrankte Angehörige selbst pflegen, aber auch Steuern zahlen, jederzeit umziehen, wenn sich eine berufliche Perspektive bietet, notfalls auch mal nachts oder en bloc oder auf andere Art unregelmäßig tätig sein, er soll sich verlässlich zeigen und sich selbst dazu befähigen, Dinge gegebenenfalls zu verwerfen und verbrauchen, er soll sich ein bisschen engagieren, aber auch nicht wieder so wild demonstrieren, dass der Wasserwerfer kommen muss, er soll nicht rauchen und sich gesund ernähren aber bitte nicht so lange leben, dass die Rentenkassen noch größere Schwierigkeiten bekommen als sie eh schon haben.“
Beobachten, darüber schreiben und damit ein bißchen die Welt verändern passt nicht in dieses Bild, das Katja Kullmann vom Standort Deutschland zeichnet. Ich nehme an, die restliche kapitalistisch organisierte Welt ist mitgemeint. Wir sollen nicht länger studieren, als vorgeschrieben. Dann sollen wir unsere möglichst marktkonformen Qualifikationen sogenannten ArbeitgeberInnen zur Verfügung stellen und uns auch demokratisch möglichst marktkonform verhalten. Zuerst natürlich ein paar Monate oder Jahre unbezahlt – schließlich sind wir auch als PraktikantInnen schon mitverantwortlich für den business success derer, die unsere Arbeit nehmen. Gibt ja eh workout nach der Lohnarbeit: schlank und braungebrannt wär nämlich schon auch angebracht. Manche finden einen business angel, viele davon ihren Daddy. Und dann ist’s eigentlich auch schon Zeit für die Reproduktion. Bernd Marins mahnende Stimme und die bedrohliche Grafik der Bevölkerungspyramide sind mein Multimedia-Hintergrundklang, wenn meine FreundInnen „Pensionszeiten“ sagen. „Zusatzversicherung“ sagen sie auch und „Eigenmittel“. Für die Wohnung, die man sich dann Mitte dreißig schon leisten können sollte, damit man nicht Monat für Monat Miete ins nichts zahlt. Klein Aljoschas Chinesisch-Kurs und die Barockorgelstunden sollen doch nicht unter gedankenlosen Mittzwanziger-Fehlplanungen leiden.
Notabene: Ich schreibe hin und wieder, ich kann da und dort einen Denkanstoß geben und ich bin weit weg vom finanziellen Prekariat. Aber der Rückzug ins Private, das Hinnehmen des eigentlich nicht Hinnehmbaren, der schrittweise Abschied vom täglichen Zeitunglesen, Trendsport statt Bücher und fun statt Auseinandersetzung sind greifbar. Sie betreffen den prekarisierten Berufsstand der Recherche- und Schreibwilligen besonders massiv. Viele nehmen dann halt doch einen ordentlich bezahlten schlechten Brotberuf statt des prekären guten Journalismus. Immer mehr „ist halt so“ und „kann man nicht ändern“ und „mach dich nicht unglücklich“ tönt es von allen Seiten. „Postmaterialistische Probleme“ höhnt das Feuilleton. Das freundschaftliche „sich um sich kümmern“ ist mir gefährlich nahe am Credo „wenn alle für sich sorgen, ist für alle gesorgt.“ Das gute Leben soll das Zurückgezogene sein? Das einst im Interesse Opfer struktureller Gewalt politisierte Private soll wieder ganz privat werden?
Katja Kullmann sagt dazu „Echtleben“. Und sie meint es kein bißchen positiv.