ich hab’s meiner oma erzählt

„Ich hab’s meiner Oma erzählt und die hat versprochen, es all ihren Freundinnen zu erzählen.“ Der Student schaut mich überzeugt an. Ich versuche, ihm zu folgen. Die rundum stehen, schauen ihn ein bißchen schräg an. Eine junge Frau verdreht die Augen. Aber es glänzt in den Augen des Erzählers, er ist begeistert. Dabei studiert er gar nicht das Gleiche, wie die meisten hier. Der Informatiker geht nur auf die gleiche Uni. In einer gemeinsamen Pause hat ihm eine Sozialarbeiterin von einem Fall erzählt. Wobei man Fall gar nicht sagen dürfe, schließlich gehe es um Menschen. Das hat er seiner Oma auch erzählt. Auf die nächste Demo geht sie mit. Wenn’s nicht so kalt ist, weil das machen ihre Gelenke nicht mit.

Es ist eine der Geschichten, die Hoffnung macht, die ich erzählen will. Vor eineinhalb Jahren ist die Debatte über Asyl in Tirol so gut wie vorbei. Drei Asylwerber überfallen und vergewaltigen eine junge Frau. Wenn der Stab erst gebrochen ist, gehen die Opfer rassistischer Vorurteile zu den Behörden, bis sie brechen. Die letzten Einrichtungen, die noch Flüchtlinge beraten, sperren zu. Vorrang für den Stammtisch, die Menschen und ihre Rechte werden zur Verschubmasse. Öffentliche Gelder gestrichen, der von den Medien der Moser Holding lancierte Diskurs über die sogenannte Marokkaner-Szene trägt das Seine dazu bei. Die grausige Straftat von drei Männern kostet ein paar tausend Menschen ihre letzte professionelle Unterstützung. Dachten sie. Denn dann kommt eine Gruppe junger StudentInnen. JuristInnen, PolitologInnen und vor allem SozialarbeiterInnen. Sie sperren kurzerhand ihre eigene Einrichtung auf. Beraten auf eigene Faust, lernen sich ein, schließen sich mit kirchlich finanzierten Stellen kurz. Betreiben Lobbying bei der Evangelischen Diakonie. Heute bekommen sie von deren Flüchtlingsdienst zusätzlich zu den Räumlichkeiten zumindest ein bißchen Geld. Private SpenderInnen helfen über die Runden, teilweise mit vierstelligen Summen.

Der Jugendbetreuer am Podium redet sich die Seele aus dem Leib. Er will den 300, die zur Diskussion gekommen sind, die Lebenrealität der AsylwerberInnen näher bringen. Viele kennen die Situation, sie haben schon vier Wochen davor in einer kalten Dezembernacht für das Bleiberecht demonstriert. 700 waren dort im Innsbrucker Frost, zwischen Punsch- und Ramschständen sah die Landeshauptstadt die größte Kundgebung seit dem Burschenschafterkommers im Sommer 2009. Lange haben die OrganisatorInnen die Diskussion geplant. Die StudentInnen haben diskutiert, ob sie PolitikerInnen am Podium haben wollen. Ob sie den Polizeichef einladen, der sich als Rauhbein einen Namen gemacht hat. Ob das nicht zu einer politischen Schlammschlacht werden würde. Ob eine lösungsorientierte Diskussion mit PolitikerInnen möglich sein würde.

Der Abend zeigt: Sie haben richtig entschieden. Ein Caritas-Mitarbeiter steht auf. Er wirft sich für den jugendlichen Flüchtling am Podium ins Zeug, der zu Beginn in Österreich mit Drogen gedealt hat. Der 18jährige ist jetzt ein Aussteiger aus dem Drogensumpf. Er ist heraußen aus dem Asylverfahren, hat verloren. In sein Herkunftsland Marokko darf er trotzdem nicht zurück. Der König will ihn nicht haben. Er ist illegalisiert in Österreich, aber nicht zur Ausreise berechtigt. Über 8.300 Euro haben die Verwaltungsstrafen wegen illegalen Aufenthalts in den letzten zwei Jahren gekostet. Es sind die Spenden, die ihn über die Runden bringen in dieser absurden Welt, die keine Regelung für ihn vorgesehen hat. Wenn der Caritas-Mitarbeiter von christlich redet, rümpfen einige im Publikum die Nase. Aber nur einige Wenige. Eine Studentin am Podium sucht ökonomische Gründe für mehr Einwanderung. Es holpert ein bißchen in ihrer Argumentation. Einige rümpfen die Nase.

Der ÖVP-Politiker auf dem Podium hat den Saal gegen sich, wenn er in herkömmlichen Mustern über die Marokkaner als Ganze urteilt. Aber er erntet viel Kopfnicken, als er für ein Recht auf Arbeit für AsylwerberInnen eintritt. Eine ältere Frau steht auf, erzählt die Geschichte ihres Schützlings, der ebenfalls Flüchtling ist. Ihre Sprache ist einfach, sie kennt sich nicht aus in den Untiefen der Fremdengesetzgebung. Einige rümpfen die Nase. Der Landesrat spricht große Worte. Einige im Asylbereich Tätige rümpfen die Nase – sie kennen die Versprechungen. Eine Stadträtin steht auf und will wissen, was die Politik aus Sicht der ExpertInnen tun könnte. Noch eine Stadträtin: Sie ruft zu zivilem Ungehorsam und zu kreativen Lösungen auf. Mit dem Vizebürgermeister am Podium ist fast die halbe Regierungsriege der Landeshauptstadt im Saal. Weit hinten sitzt der für das Flüchtlingswesen zuständige Landesbeamte und schreibt fleißig mit. Er protokolliert nicht, er lernt. Vor zwei Jahren, bei seinem Vorgänger, gab es wochenlange Wartefristen auf einen Termin. An diesem Tag sitzen sämtliche politisch Verantwortliche im Raum.

Ich treffe eine Nachbarin von vor gefühlten 15 Jahren. Ihre Tochter ist gerade 19 geworden. Die Nachbarin hat früher immer über die Ausländerkinder geschimpft, wegen der ihre Kinder nicht mehr g’scheit deutsch lernen. Warum sie hier ist, will ich wissen. Ihre Tochter hatte einen Freund, der Asylwerber ist. Hatte, denn er hat ihre Tochter verlassen. Aber es geht ums Prinzip, sagt sie. Die „Asylanten“ haben ein Gesicht und eine Geschichte bekommen in ihrem Leben. Es ist keine homogene Gruppe, die sich da trifft. Es sind WeltverbessererInnen und verbitterte ZynikerInnen, engagierte ChristInnen, SozialarbeiterInnen, KommunistInnen und AntikommunistInnen, FreiberuflerInnen und BeamtInnen, Junge und sehr Alte. Und es sind viele Menschen, in deren Leben zufällig jemand getreten ist, der fremd ist in diesem Land. Das Wichtigste aber ist: Es sind viele. Zu viele, um von der Politik überhört zu werden. Hinter den 300 stehen hunderte FreundInnen, Bekannte, ArbeitskollegInnen und Familienmitglieder. Sie kennen die Geschichten von AsylwerberInnen, die nicht in der Zeitung stehen.

„Und weißt du, was das beste daran ist?“, fragt mich der Student. Ich schau ihn ein bißchen abwesend an. Sein Exkurs zwischen Paragraphen, Verordnungen und Weisungen ist vorbei. Themenwechsel angesagt. „Sie werden nicht mehr so viel Lügen verbreiten, wenn sie mit älteren Menschen reden.“ Er meint alle, die mit Stimmungmache gegen Fremde auf Stimmenfang gehen. „Sie werden nicht mehr so reden.“ Mein ratloser Blick verrät ihm, dass ich noch immer nicht verstanden habe. „Ihr Gegenüber könnte meine Oma sein.“

2010: ehre, wem ehre gebührt

Es sind harte Zeiten. Es gibt Gründe en masse, in dieser Schweigezeit zu verbittern. Aber es ist gerade ein Jahr her, dass die Zeitungen voller Hoffnung waren. Audimaxismus hieß das Schlagwort zu einer jungen politischen Bewegung, die sich leider nicht nur als kurzweilig, sondern auch als kurzlebig herausgestellt hat. Der Aufbruch der Zivilgesellschaft lässt sich eben nicht herbeidiskutieren und herbeischreiben, sondern er muss gemacht werden. Ich will am Ende des Jahres 2010 die in den Mittelpunkt rücken, die das getan haben.

Norbert Mähr und Amrei Rüdisser: Es ist der 25. Februar, 4 Uhr in der Nacht. Ein paar Kameras laufen und ein paar hundert BürgerInnen haben sich in einem Haus am Vorarlberger Land versammelt. „Ich werde es nicht zulassen, dass diese Familie delogiert wird“, sagt der ÖVP-Bürgermeister von Röthis am Telefon dem zuständigen Landebeamten, der die geplante Abschiebung der vierköpfigen kosovarischen Familie Durmisi zu verantworten hat. Ausgegangen sind die Proteste von der Lehrerin Amrei Rüdisser und ihren Freundinnen. „Das Dorf der Widerspenstigen“ titelt sogar die Hamburger Zeit und adelt die BürgerInnen einer Gemeinde, in der die ÖVP seit jeher über 60% der Stimmen macht.

Romy Grasgruber, Maria Sofaly und Robert Slovacek: Genau einen Monat nach der verhinderten Abschiebung der Durmisis tanzen in Wien Lichter gegen die rechtsextreme Präsidentschaftskandidatin Rosenkranz. Die bunte, kreative Demo mit 8.000 TeilnehmerInnen hat Robert Slovacek via Facebook mit Grasgruber und Sofaly initiiert. Schon im Juni 2009 haben die beiden Studentinnen es geschafft, eine Lichterkette gegen Rechts um das gesamte Parlament zu organisieren – wohlgemerkt, ohne parteipolitisch organisiert zu sein.

2.287.640 ÖsterreicherInnen, teilweise ungewollt: Genau einen Monat nach dem „Lichtertanz“ sind es zwei und eine Viertel Million ÖsterreicherInnen, die den Anti-Waldheim in eine zweite Amtszeit schicken. Heinz Fischer ist wie kein zweiter Politiker in seinem Rang der österreichischen Lebenslüge entgegengetreten, dass Österreich im Zweiten Weltkrieg neutral gewesen sei und keine Schuld trage. Das wird für die Mehrheit seiner WählerInnen nicht der Grund gewesen sein, ihn zu wählen. Aber trotzdem: Die FPÖ hat den Rechtsextremismus und das vermeintliche Medien-Opfer Rosenkranz zum Einser-Thema des Wahlkampfs gemacht. Ein knappes Vierteljahrhundert nach der erfolgreichen antisemitischen Kampagne für Kurt Waldheim ist das Ergebnis vom 25. April auch ein klares Statement in diesem Sinn.

Karin Klaric: Bilder sagen mehr, als tausend Worte. Die Bilder vom 7. Oktober haben in der Asyldebatte ganz Österreich vor Augen geführt, mit welchen Methoden die Republik gegen Minderjährige vorgeht: Mit Maschinengewehren bewaffnete Polizisten, die zwei 8-jährige Mädchen in einen Polizeibus stecken, während die Mutter im Krankenhaus liegt, haben den Fokus der Debatte verändert, die bisher auf Kriminalität reduziert war. Organisiert hat die Bilder die Anwältin Karin Klaric: Sie hat dafür gesorgt, dass Filmkameras bei der Abschiebung im Morgengrauen dabei waren. Und die Komani-Zwillinge samt Vater sind seit Ende Oktober wieder in Österreich.

Kadri Evcet Teczan: Er wird wohl demnächst abberufen, der türkische Botschafter, der am 10. November so viele Wahrheiten ausgesprochen hat, dass sich das offizielle Österreich seiner Lieblingsdisziplin, dem Leugnen und dem Verleumden, gewidmet hat. Der undiplomatische Botschafter hat die Scheinheiligkeit in der Integrations-Debatte samt ihrer Proponenten an der Spitze der Republik enttarnt. Das ist aufklärerisch im besten Sinn des Worts. Dass Teczan Recht hat, weiß ich von den Kindern im Innsbrucker Integrationshaus aus nächster Nähe.

Helmut Schüller: Ein Satz im Standard vom 3. Dezember, der so schön ist, weil er so wahr ist. Und weil ihn die, die ihn sagen sollten – die sogenannten Linken im Parlament – schon lange nicht mehr sagen: „Eine Gesellschaft, die lautstark ihre Tür zuknallt, aber unterm Türschlitz massenhaft Leute hereinsaugt, um sie gewisse Arbeiten machen zu lassen, ist unehrlich. Mir wurde nach langem Nachdenken klar, dass die Integrationsdebatte ein Ablenkungsdrama ist, das mit gut verteilten Rollen aufgeführt wird. Ablenkung davon, dass es um die Frage der Verteilung geht. Auch die Hetzer in der Ausländerdebatte sind Helfershelfer des Kapitals.“ Der Mann ist übrigens katholischer Funktionär.

Die unbekannten „Randalierer“: In einem startbereiten Flugzeug Radau zu machen, um die Abschiebung eines 22-jährigen Asylwerbers aus Guinea zu verhindern, ist für mich als geheilten Flugängstler noch einmal unvorstellbarer, wie für alle anderen. Dass die Unbekannten für ihren Einsatz um die Menschenrechte am 15. Dezember saftige Strafen in Kauf nehmen, ist so oder so aller Ehren wert.

Und dann sind da noch: die tausenden, die gegen das schwarzrote Schandbudget auf die Straße gegangen sind, das Team von Ute Bock mit ihrer unverzichtbaren Arbeit für die, denen sonst niemand hilft. All die JournalistInnen, vor allem beim Falter und beim Profil, die dafür sorgen, dass die unfassbare Story um Karlheinz Grasser nicht verloren geht und die der Justiz auf die Finger schauen. Werner Kogler für 13 Stunden Dauerrede ohne Pipipause. Marco Schreuder, der als einziger Wiener Gemeinderat einer Resolution zur Verurteilung Israels für den Angriff auf die Mavi Marmara seine Zustimmung verweigert hat. Andre Heller als einer der wenigen Promis, der in diesem Jahr aus der SPÖ ausgetreten ist, weil er eine „beschämende Geistlosigkeit“ konstatiert. Josef Hader für diese Emotion zur „Dreckshackn“. Weil der Wikileaks-Hype nicht zu bremsen ist: Die vielen WhistleblowerInnen in der Verwaltung, die ihre Jobs aufs Spiel setzen, weil sie die unheimlichen Vorgänge in ihren Ämtern nicht mehr länger anschauen wollen. Die StudentInnen von der Innsbrucker Asylrechtsberatung, die ihre Freizeit opfern, um traumatisierten Flüchtlingen einen Rettungsanker zu werfen.

Danke Euch/Ihnen allen!