harris rede hat alle knöpfe gedrückt

Der Höhepunkt eines Nominierungsparteitags einer der beiden großen US-amerikanischen Parteien, ist die Rede des/der Präsidentschaftskandidat*in am letzten Abend. Nach drei Tagen mit mitreißenden, pointierten, lustigen, kämpferischen Redebeiträgen – vor allem die von Michelle Obama und von Oprah Winfrey sind sehenswert, aber auch die nachdenkliche von Bill Clinton kann ich empfehlen – war die drei Tage lang gefeierte und angekündigte Kandidatin an der Reihe. Und sie hat eine auf den ersten Blick weniger aufregende Rede gehalten, als viele vor ihr: Die letzten Wochen ist sie mit einer 20-minütigen Rede durchs Land getourt, die Trump auf die Schippe nimmt und die an mehreren Stellen mit Wortspielen und Selbstironie zum Lachen bringen soll. Heute Nacht haben wir eine andere Kamala Harris gehört.

Die gut 30-minütige Rede war ein Rundgang durch die Galerie der demokratischen Errungenschaften und Ziele und durch die Bedrohung durch eine mögliche zweite Trump-Präsidentschaft. Ausbau der Gesundheitsversorgung, Kampf gegen die Waffengewalt, den Rechtsstaat vor republikanischen Übergriffen schützen, mehr für Bildung tun. Und natürlich: Die Selbstbestimmung von Frauen über ihren Körper. Harris war ernster aber trotzdem emphatisch und sehr eindringlich an den Stellen, die betont werden sollen. Ganz neu zum Beispiel: Ein Dreiminüter nach ca. 27 Minuten, in dem sie über Israel, Palästina und über die außenpolitischen Herausforderungen spricht und über Trumps Naheverhältnis und seine Bewunderung für die Diktatoren der Welt.

Wie ein roter Faden in der Rede: Die Bezugnahme auf ihre verstorbene Mutter und die Werte, die sie ihr und ihrer Schwester mitgegeben habe. Wie eine Klammer, am Anfang und am Ende und einmal mittendrin. Das ist auch ein Echo auf die Obamas, die in der rednerisch stärksten Stunde des gesamten Parteitag Dienstagnacht eine Würdigung von Michelles und Kamalas Mütter durch ihre Reden geflochten hatten.

Kamala Harris schließt mit einem Bekenntnis zu Amerika, zur Hoffnung in Abgrenzung zum Schreckensbild von Amerika, das Trump zeichne, das Gemetzel, die American Carnage. Einer der Leitsätze ihrer Mutter für ihre Töchter – „never let anyone tell you who you are – show them who you are“ – wird im nicht enden wollenden Schlussapplaus als Bild für das Selbstverständnis von Amerika aufgelöst. Ein besonders schöner rhetorischer Kunstgriff und die Krönung einer Rede, die vor allem in ihrem Tonfall und ihrer Nachdrücklichkeit beeindruckt. Das ist keine Rede voller Punchlines wie jene von Michelle Obama und Oprah Winfrey oder hintergründiger philosophischer Gedanken wie jene von Barack Obama und Bill Clinton (Geschlechterrollen anyone?). Sondern eine klare Botschaft voller gezielter Botschaften, die einen extrem seriösen, ernsthaften, präsidentiellen Gesamteindruck hinterlässt. Schaut sie euch in Ruhe an.

die galanacht der obamas

Das First Couple von vor 15 Jahren hat wieder zugeschlagen: Es ist eine geniale Klammer über beide Reden, mit der die Obamas heute Nacht in Chicago die mit über 10.000 Fans und Parteigänger*innen gefüllte Halle zum Toben bringen. Es geht um die Mamas und Omas.

Und um eine besondere Weise, progressiv „Make America Great Again“ zu sagen. Das nennen wir Reframing: Der Bogen einer gegnerischen Erzählung – „früher war alles besser“ – wird um den eigenen Inhalt herumgebogen. Weil früher, das ist bei Obamas nicht, als alles noch gut war. Früher ist bei Obamas, als man noch um mehr kämpfen musste: um Dinge, die heute geschafft sind: Die allgemeine Krankenversicherung, sauberes Wasser, Kinder auch für nicht natürlich zeugungsfähige Paare dass man lieben kann, wen man will und zu denen beten, an die man glaubt.

Die früher darin gekämpft haben, das sind die Mamas und Omas. Michelles vor kurzem verstorbene Mama, die Barack auch so gern hatte („sie hat mir oft recht gegeben, wenn ich mit Michelle stritt“), Marian Robinson, war so eine: fleißig, gerecht, immer noch eine Überstunde. Damit ihre Kinder es einmal besser hätten. Das erzählt Barack und es erinnert ihn an seine Oma, die im ländlichen Kansas gelebt hat und nicht wie Marian Robinson in Chicago. Zwei Frauen, die das Herz noch am richtigen Fleck hatten, die wussten was richtig und falsch ist. Obwohl die eine Weiß & die andere Schwarz war und eine Generation dazwischen liegt.
Früher war nicht alles besser, aber die Leute waren es: Und nur so sind wir hierher gekommen, sagen die Obamas. Wegen dieser zwei Frauen um Speziellen und weil andere Werte galten, im Allgemeinen.

Der neue Bogen, der MAGA als Vergangenheitssehnsucht ablösen soll, den bedient auch Tim Walz bei jeder Gelegenheit: Nachbarschaft ist sein Leibthema. Man pfuscht sich nicht rein, nimmt Rücksicht, man hilft einander, respektiert unterschiedliche Meinungen. Das ist sein roter Faden. Können wir endlich wieder bei einem Familientreffen über die Football-Meisterschaft reden und nicht immer über Politik streiten? Und können wir Common Sense von früher – das Bekenntnis zu Demokratie, zu öffentlichen Schulen, zur Meinungsfreiheit, zu Toleranz, wieder einführen?

Da wird Walz bei seiner heutigen Rede helfen, dass vor ihm der Präsident redet, der Common Sense stark verkörpert: Bill Clinton. Und dass mit Adam Kinzinger der prominenteste republikanische Abgeordnete nach Liz Cheney auftritt – und als Republikaner zum Harris wählen aufruft.

„This is not your grandfather‘s Republican Party“, war der Schlachtruf von Joe Biden gegen Trump.

Die Mamas, die Omas, die Opas: Es auch eine Familienfeier am Parteitag. Und der Versuch, den Republicans die von denen reklamierten Family Values zu klauen.

Mit Erfolg. So far.








die große kamala harris show beginnt

Das ist Barack Obama vor 20 Jahren. Da war er gerade Senatskandidat in Illinois und durfte eine Rede auf dem demokratischen Parteitag halten. „There‘s no white and black America, there‘s only the United States of America“, war sein Refrain. Vier Jahre später war Obama selbst im Mittelpunkt des Wahlparteitags als Kandidat und heute, 20 Jahre später, wird Obama am Dienstag das Hauptabendprogramm von 20-30 Millionen Amerikaner*innen sein.

Parteitage dauern 3-4 Tage und sind eine gut inszenierte Show, bei der die Spitzenkandidat*innen vorgestellt werden. Weil das ganze im Hauptabendprogramm ist und nicht nur die üblichen verdächtigen politisch Interessierten ansprechen soll, sind die Reden eher persönlich, emotional und allgemein gehalten.

Es gibt da keine detaillierte Vorstellung irgendwelcher Projekte. Es geht um Werte und um Haltungen und um die Menschen am Wahlzettel. Deshalb haben vor allem bei den Demokrat*innen auch die Eheleute oder Partner*innen der Spitzen immer einen festen Platz: Sie sollen die persönlichste Perspektive einnehmen. Niemand kennt den Menschen besser und kann ihn/sie authentischer vorstellen als die Partner*innen, so die Arbeitshypothese.

Der demokratische Parteitag bietet alle Stars auf: Clintons, Obamas, den Enkel des ältesten noch lebenden Präsidenten Jimmy Carter. Es ist auch immer ein bißchen eine Familienfeier, auch wenn da locker 5.000 Leute zusammenkommen. Und es gibt – siehe den jungen Obama – Platz für Talente, die sich erstmals auf ganz großer Bühne versuchen dürfen.

Politisch bringt der Parteitag neben einem abgerundeten und sympathischen Bild der Kandidat*innen und je nach Gelingen dieser Übung, 1-2% Aufschwung in den Umfragen, von denen nach ein paar Wochen zumindest die Hälfte wieder weg ist. Aber wenn am Ende 1% mehr vom Parteitag bleibt, dann kann das in einem knappen Rennen wie momentan in den USA, das entscheidende % sein.

Ein Hinweis dazu, wie man das verfolgen kann: Auf Youtube gibt‘s Livestreams mehrere Medien. Man muss da nur „DNC live“ eintippen. Die Uhrzeiten sind nicht so super: Das Abendprogramm startet um Mitternacht MEZ, die Hauptreden sind dann ab 2 Uhr. Aber nachdem es da ja mehr um Stimmung geht & man nicht irgendeine breaking Entwicklung verpasst, kann man sich die Reden gut zum Frühstück geben. Mahlzeit!

one voice can change a room

Ok, aufgepasst: Das ist für die Mehrheit der in und um die Politik und in und um Medien arbeitenden Menschen ein harter Schlag.

Das Leben der meisten Menschen dreht sich nicht um Politik, Zeitungen und Magazine. Sie sind auch keine full-blooded Fans von Partei A, Zeitung B oder Kolumnistin C. Die meisten Menschen wählen ihre Partei oder lesen ihr Medium auch nicht aus voller Überzeugung und finden alles super, kleben sich ein Plakat von der Spitzenkandidatin oder vom Chefredakteur ins Schlafzimmer und freuen sich schon auf den morgigen Newsletter oder den Leitartikel.

Politik & Medien sind für sie mehr oder weniger Beiwerk. Sie würden Politik & Medien auf einer Liste der wichtigen Dinge in ihrem Leben auf Platz 7-9 reihen, hinter * mein Kind schießt das erste Tor im U9-Halbfinale * die Oma kriegt endlich einen Platz im guten Pflegeheim * wir haben bei den 25%-Wochen in unserer Stammunterkunft zugeschlagen * der Wirt im Dorf hat endlich einen neuen Pächter gefunden * der Kassenarzt hat schon nächste Woche Zeit für den schmerzenden Zahn * der Kindergarten hat eine Sommergruppe aufgemacht und vielen weiteren viel alltäglicheren, unmittelbareren und einem weniger komplex ausgestalteten Entscheidungsmechamismus folgenden Dingen.

Die Mehrheit der Wähler*innen liest nicht nur keine Wahlprogramme. Sie würden auch keine unterstützen. Sie finden Punkt 3, 5 und 7 der Konservativen super aber Punkt 2 und 8 richtig reaktionär. Sie stimmen der Präambel des grünen Programms zu aber spinnen die im Verkehrskapitel komplett? Die Blauen haben schon auch recht bei Punkt 4, 7 und 9 und wenn die Sozis nur mehr endlich wieder Sozis wären. Und die Liberalen sind zwar weird, aber die Spitzenkandidatin, die taugt ihnen einfach schon und manche wählen sie nur deshalb.

Long Story Short: Wahlmotive sind komplexer, unübersichtlicher, irrationaler und spontaner, als das jeder Parteizentrale recht sein kann. The proof is in the pudding: Sarah Longwell und Tim Miller sind Republikaner*innen und sie tun seit Jahren kaum etwas anderes, als Wechselwähler*innen zuhören. Und sie erzählen im „Pod save America“-Podcast die für Politik- und Medienbetriebsleute verrücktesten Geschichten, wie Menschen zu ihren Wahlentscheidungen kommen.

Aber sie haben einen zentralen Punkt, an dem alle einhaken könnten, wenn sie wollten. Spiel dein Thema nach vorne, dann gewinnst du. Nicht das der anderen. Nicht deine Position zum Thema der anderen. Nicht deines als perfekte Symbiose zwischen Themen A, B und C. Sie sagen, mit viel Evidenz ausgestattet: Wenn die Wechselwähler*innen in den USA im November beim Wählen an die Selbstbestimmung von Frauen und an den Putschversuch vom 6. Jänner denken, gewinnen die Demokrat*innen. Wenn die gleichen Wähler*innen beim Wählen mehrheitlich an die Wirtschaftslage und Amerikas Platz auf der Welt denken, dann gewinnen die Republikaner*innen.

Das deckt sich mit der jahrelangen Arbeit zu Value Shifters in Österreich, die „Foresight“, früher „Sora“, macht: Stärkste Evidenz – im zu zwei Dritteln ÖVP & FPÖ wählenden Oberösterreich war während der starken Zuwanderung aus Syrien sowohl die Zustimmung zu klassisch rechten Thesen dazu, als auch jene zu klassisch linken Thesen dazu, mit einer deutlichen Mehrheit ausgestattet.

Was heißt das in der Ableitung? Parteien haben einen starken Markenkern, daran wird ihre Glaubwürdigkeit gemessen, da müssen sie stabil sein, da dürfen keine Fehler passieren, wenn sie da was verbocken, tut das richtig weh. Blaue, die Champagner auf Staatskosten saufen? Schädigt den Markenkern. Rote an der Cote d‘ Azur oder mit protzigen Uhren? Tut weh. Grüne überholen mit 170 auf der Autobahn oder betrieben Rufmord an Journalist*innen? Just don‘t. Schwarze haben Nebenfamilien und Nebenkinder? Stramme Republikaner pflegen erotische Beziehungen zu Einrichtungsgegenständen? Demokratinnen tun Selbiges mit Praktikant*innen? Geht gar nicht.

Umgekehrt gesehen: Wenn die öffentliche Debatte in den Wochen vor der Wahl auf dein Leibthema schwenkt, dann gewinnst du das auf jeden Fall. Spielst du auf fremdem Feld und versuchst, als Konservative*r der/die bessere Linke*r zu sein oder du meinst, als Linke*r nur weit genug nach rechts rutschen: Das geht nicht auf, das geht sich nicht aus.

Die Herausforderung besteht also darin, weniger missionarisch bei den Themen der Anderen zu sein, als die eigenen Themen so kreativ, geistreich, scharf, evident untermauert und mutig zu bringen, dass die dafür zu habenden Wähler*innen zu dir aufspringen, auch wenn sie eigentlich mehr Überschneidungen mit jemand anderen haben oder große Teile deines Programms nicht unterschreiben würden.

Das klingt so banal: Aber mit Blick auf die Wahlen in Österreich und Deutschland, hab ich nicht den Eindruck, dass das irgendwer verstanden hat. Die Evidenz ist klar, die Massen sind bewegbar, die Mehrheiten verschiebbar. Man muss nur – und ich weiß, schwierige Übung – konsequent, bei sich und sehr klar formulieren und vorgehen. Dann sind absurderweise in Mehrparteiensystemen die tollsten oder die schrecklichsten Verschiebungen möglich – und in den USA verschiebt der richtige Fokus die Präsidentschaft und den Kongress mit nur 3% Swing komplett nach ganz rechts oder in die linke Mitte.

Totally unrelated: Wir können das nicht alleine lösen, aber wir haben einen klaren Blick auf die Evidenz & ein paar gute Werkzeuge. One voice can change a room & wir können helfen, das Ziel im Auge zu behalten & die Komplexität von Wahlentscheidungen abzubilden & zu beeinflussen.

kamala harris ist jetzt vorne

Es ist immer noch keinen Monat her, dass Donald Trump bei einem Auftritt angeschossen wurde und sich die halbe internationale Journalist*innenszene einig war: Das war’s. Es ist entschieden. Trump wird wieder Präsident.

Keinen Monat später liegt Trump gegen das demokratische Ticket in den drei Swing States des Mittleren Westens, mit deren Hilfe Joe Biden ins Weiße Haus eingezogen war, jeweils 4% zurück. Das demokratische Ticket ist neu, das von Donald Trump ist alt und durch seinen Vize nicht attraktiver geworden. JD Vance lockt niemanden von der Couch, der/die nicht davor schon von Trump begeistert war. Harris Vize-Kandidat Tim Walz dagegen signalisiert jedenfalls den Wunsch der demokratischen Kampagne, die Zielgruppen zu erweitern und nicht-klassisch-demokratische Wähler*innen anzusprechen.

Die zwei großen, renommierten Analyse-Institute, die nicht nur mit Umfragen, sondern auch mit Modellen mit mehreren zusätzlichen Faktoren – Parteiregistrierungen, Spendenhöhe, vorherige Wahlergebnisse, Kandidat*innen-Beliebtheit und noch mehr – arbeiten, haben die drei anderen Swing States zu Gunsten von Harris und Walz umgestellt: Arizona, Nevada und Georgia sind aus der Kategorie „neigen zu Trump“ in die Kategorie „Unentschieden“ zurückgestuft worden.

Das Momentum für Harris und Walz ist real, das ist nicht nur an Umfragen messbar. Keine Veranstaltung mehr mit weniger als 10.000 Zuseher*innen, in Glendale/Arizona waren es gestern mit fast 20.000 die meisten, die je ein*e Demokrat*in in Arizona mobilisieren konnte. Jetzt stellt sich die Frage: Geht das so weiter? Ist das Ding entschieden? Und was macht Trump?

Trump macht das, was er schon mit Hillary Clinton erfolgreich gemacht hat und woran er bei Biden gescheitert ist. Wissend, dass er einen Plafond von 46-47% hat und keine Mehrheit bekommt, muss er die demokratischen Kandidat*innen diskreditieren, damit sie auch weniger Stimmen bekommen. Trump muss gar nicht gewinnen: Wegen des Wahlsystems reicht ihm eine Niederlage mit 2% US-weit wahrscheinlich trotzdem für den Einzug ins Weiße Haus.

Also schmeißt Trump mit Dreck, nennt Harris zu dumm für eine Pressekonferenz, eigentlich auch zu dumm für die Anwältin*innenprüfung und erzählt, „sie“ hätten Joe Biden herausgenommen und der sitze jetzt traurig daheim und schreie den Fernseher an. Das offensichtliche Ziel: Trump ist bekannt, über den erfährt niemand mehr was Neues, die Lager sind da recht festgefahren. Harris ist gerade im Honeymoon mit der Öffentlichkeit und geht momentan in Richtung oder über 50%, sie hat außerdem nach wie vor ein positives Saldo bei der Ablehnungs-/Zustimmungsrate, was eine absolute Ausnahme unter bundesweiten Spitzenpolitiker*innen ist. Das muss aus Trumps Sicht weg: Bleibt Harris netto-positiv, dann wird sie schwer zu schlagen sein.

Wir haben Zweifel an ihrer Hautfarbe gehört, dass niemand wisse, wie man ihren Namen eigentlich ausspreche, aus Trumps Umfeld wird die Legende gestreut, Harris sei nicht in den USA geboren und deswegen eigentlich gar nicht berechtigt, zu kandidieren. Der Rückzug Bidens wird als Coup bezeichnet, der vielleicht verfassungswidrig sei und von dunklen Mächten gesteuert. Es ist das gesamte Gruselkabinett an Lügen und Verschwörungstheorien, das Trump schon jetzt, 88 Tage vor der Wahl, herausholt.

Das wird mehr, das wird schlimmer, weil (nur) so funktioniert Trump: Immer noch ein Schauferl drauf legen, damit die Öffentlichkeit immer was Neues zu schreiben hat, aber sich gleichzeitig in kleinen Schritten daran gewöhnen kann, dass das Unsagbare, das Trump sagt, ja eigentlich eh ganz normal sei. Trump hat mit dieser Strategie 2016 gewonnen. Es ist 2024 schwieriger für ihn, weil viele seiner konkreten politischen Vorschläge sehr unpopulär sind. Aber es ist noch lange nicht vorbei.

A week is a lifetime in politics – deshalb ist keinen Monat nach dem Attentat und dem schon attestierten Wahlsieg Trumps, statt dessen seine Mitbewerberin in Führung. In einem Monat kann alles drehen: Und es sind noch drei Monate bis zur Wahl.

coach walz betritt die bühne

Viel wichtiger als was gesagt wird ist ja, wie es gesagt wird. Wie schauen die Leute aus, wenn sie das sagen. Wie ist die Stimmung bei denen, die zuhören? Tragen die das, was sie da hören, weiter? Motiviert sie das, sich zu engagieren? Nun: Die Herausforderung könnte nicht größer sein, die Aufgabe nicht wichtiger, als eine zweite Amtszeit von Donald Trump zu verhindern und eine erste Amtszeit von JD Vance, wenn Trump nicht vier Jahre amtsfähig bleiben sollte.

Man kann über den heutigen Auftritt von Vizepräsidentin Harris und ihrem heute ausgewählten Vizepräsidentschaftskandidaten Tim Walz vor 12.000 Zuseher*innen in Philadelphia also eine Textanalyse laufen lassen: Harris hält ihre Standard-Rede und an den Stellen, wo Walz Agenda als Gouverneur oder biographische Eckpunkte hineinpassen, werden sie hineingeflochten. Walz erzählt seine Geschichte vom Bauernhof der Familie über die Nationalgarde bis in den Kongress und zum Gouverneurssitz von Minnesota.

Aber wichtiger als der Text ist: Zwei Politiker*innen, die am Wahltag beide 60 Jahre alt sein werden, füllen eine Arena mit Freude, mit Lachen und mit Energie. Walz darf sogar einen Witz über die Gerüchte machen, sein republikanisches Gegenüber JD Vance habe Sex mit einer Couch gehabt. Sie wollen die unter 40-jährigen, die Generation ihrer Kinder gewinnen. Zwei Boomer treiben die Millenials und die Gen Z an – das geht auch nur, wenn dein Gegenüber Donald Trump ist.

Atmosphärisch loben Harris und Walz einander, lachen miteinander, schütten Komplimente und Freundschaftsbekundungen über dem bis heute Früh noch im Rennen gewesenen Gouverneur und Gastgeber Shapiro aus, Walz war mit ihm bei einem Springsteen-Konzert in New Jersey – eine Seitenbemerkung, mit der er suggerieren will: Die Demokrat*innen sind jetzt alle miteinander befreundet, sogar wenn sie bis heute früh Konkurrenten um den begehrtesten Job der Partei waren.

Tim Walz interessantestes biographisches Detail aus Sicht der Kampagne ist seine Tätigkeit als Football-Coach. Harris nennt ihn mehrmals „Coach Walz“, sie malt blumige Bilder um diese Rolle. Und es ist kulturell tatsächlich gut für eine Kandidatin, der man abgehobene Küsten-Mentalität vorzuwerfen versucht, einen Coach aus dem Heartland, aus Middle America, an ihrer Seite zu haben. Davon werden wir ebenso mehr sehen, wie von Walz Zeit bei der Nationalgarde, für die er sich mit 17 freiwillig gemeldet hat. Das impft Harris Kandidatur gegen einen Großteil der kulturellen Attacken.

Was bleibt also vom ersten gemeinsamen Auftritt?

Erstens: Ein versteckter Nebensatz, auf den ein Teil der Kampagne aufgebaut werden wird: Walz erzählt, seine Frau und er hätten jahrelang auf ein Kind gewartet – und als die künstliche Befruchtung schließlich nach langem Warten erfolgreich war, nennen sie ihre heute 23-jährige Tochter Hope. Wir werden noch mehr von Hope hören: Denn dass nach dem Schwangerschaftsabbruch auch künstliche Befruchtung, Verhütung und sexuelle Selbstbestimmung im Allgemeinen auf der Angriffsliste der Republikaner*innen stehen, das ist ebenso klar wie unpopulär.

Zweitens: Das Wichtigste hat Walz am Anfang gesagt, sein erster Satz auf der Bühne ist, mit Blick zu Harris: „Thank you for bringing the joy back.“ Das ist die Energie, die die Demokrat*innen brauchen, um ein Rennen gewinnen zu können, das bis zur Wahl im November sehr knapp sein wird.

kamala harris #2 ist joe biden 2.0

Vizepräsidentin Kamala Harris hat sich entschieden, wer ihr Vize sein soll, wenn sie im Jänner als Präsidentin angelobt werden sollte. Es ist der 60-jährige Gouverneur von Minnesota, Tim Walz. Vor vier Wochen außerhalb der Politikblase noch völlig unbekannt, hat Walz in einem breiten Feld mit vielen guten Bewerber*innen am Schluss das Rennen gemacht. Walz bringt zwar keinen entscheidenden Staat wie Pennsylvania mit – das hatte man seinem letzten Mitbewerber Josh Shapiro zugetraut. Aber Walz hat auch keinen politischen Ballast, der jemanden innerhalb der demokratischen Allianz stören würde.

„Do no harm“ ist spätestens seit Sarah Palin eine der Grundregeln für Vizekandidat*innen. Der ehemalige Nationalgardist, Lehrer und Football-Coach Tim Walz hat weniger Angriffsflächen als Pennsylvanias Gouverneur Shapiro. Auch wenn dem eine sehr vehemente Pro-Israel-Position und ein gerichtlich beendeter Belästigungs-Vorfall in Shapiro Kabinett als mögliche Schwächen ausgelegt wurden, dürfte es vor allem das massive Lobbying der Gewerkschaften sein, das Harris am Ende überzeugt hat. Shapiro hatte sich mit der Lehrer*innengewerkschaft angelegt, das ist eine der wichtigsten politischen Gruppen innerhalb der Demokratischen Partei.

Walz ist aber auch ein begnadeter Kommunikator und hat die „weird“-Angriffslinie der Demokrat*innen auf Trump und sein Umfeld gestartet: Die unterscheidet sich deutlich von den (berechtigten) Untergangswarnungen für die US-amerikanische Demokratie. Sie macht es Menschen, die mit den Republikaner*innen oder Trump sympathisieren oder sympathisiert haben, deutlich leichter und den Weg zu einer Stimmabgabe für Demokrat*innen kürzer. Der 60-jährige Walz, Sohn eines Lehrers, Ehemann einer Lehrerin, Vater einer 23-jährigen und eines 18-jährigen, der deutlich älter wirkt, als er ist, wird die hemdsärmelige Flanke der Demokratischen Partei abdecken und damit auch ein Ausgleich zur hochprofessionellen Kalifornierin Kamala Harris sein. Er ist für Harris, was Biden für Obama war: der nette Old White Dude als Ausgleich zur progressiven schwarzen Person.

Wäre Pennsylvanias Gouverneur Shapiro, der letzte noch im Rennen gewesene Mitbewerber Harris, die bessere Wahl gewesen? Wir werden es nie herausfinden. Aber sollten Harris/Walz den Staat Pennsylvania nicht gewinnen und das Weiße Haus deshalb verlieren, dann wird man auch an diesen 6. August mit der Kür von Tim Walz zurückdenken.

harris nimmt fahrt auf

Das gab es seit dem Wahlkampf 2016 zwischen Hillary Clinton und Donald Trump nicht mehr: Eine Präsidentschaftskandidatin hat mehr Zustimmung als Ablehnung, 48% finden sie gut, 46% nicht. Bei den anderen war das nie positiv. Clinton, Biden und Trump waren immer „unter water“, mal 5, mal 10, mal 20%. Aber in der regelmäßig als Pulsschlag der politischen Stimmung in den USA erhobenen „approval ratings“ für einzelne Politiker*innen, hat Kamala Harris inzwischen schon zwei Umfragen mit einem Plus vor dem Saldo. Das ist seit Obama die absolute Ausnahme bei Präsidentschaftskandidat*innen oder Präsidenten.

Das ist auch schon ein Teil der Antwort auf die im letzten Beitrag gestellte Frage nach dem Kamalamentum und seiner Substanz: Die erste Woche seit ihrer informellen Kür zur Kandidatin, hat die gute Stimmung für die Vizepräsidentin überstanden. Und es geht momentan munter weiter: Nachdem „Black Women for Harris“ einen Weltrekord-Zoomcall mit über 50.000 Teilnehmerinnen gestartet und dabei mehrere Millionen Dollar gesammelt haben, könnten „White Women for Harris“, „Black Men for Harris“ und gestern „White Men for Harris“ natürlich nicht nachstehen. Was das bringt, dass 170.000 weiße Männer sich in einen Zoom-Call für Harris einloggen? Es bringt gute Presse. Es werden dabei enorme Summen an Geld gesammelt. Berühmte Leute schalten sich zu und verstärken das Gefühl der Teilnehmenden, da bei was Wichtigem dabei zu sein – etwa Megan Rapinoe bei den Frauen, Jeff Bridges bei den Männern. Und beides verstärkt den Rückenwind für die Kampagne.

Dabei hat Harris noch nicht aufgeschlossen: Noch reichen die Umfragen nicht für den Einzug ins Weiße Haus. Überholspur ja, aber noch nicht vorne. Gut für sie, dass es noch mehrere in der Dramaturgie von Wahlkampagnen vorgegebene Elemente gibt, die weiteren Rückenwind geben werden. Die Nominierung ihres Vize steht nach wie vor aus und wird mit Spannung erwartet. Eine Reihe von Bewerbern tingeln durch die Fernsehstudios und bringen jedes Mal neben ihrem Gesicht auch ein paar Minuten guten Text über Harris unter. Jede kleine Kundgebung, bei der einer der möglichen Auserwählten spricht, wird live übertragen oder zumindest die besten Soundbytes hunderttausendfach angeklickt. Es könnte ja die neue #2 sein, die da spricht. Der Vize wird Rückenwind bringen, so sucht man ihn/sie auch aus, das ist klar. Und dann kommt der Parteitag, der ein Auflauf der Stars aus Medien, Musik und Politik werden wird.

Aber Achtung: Nur weil sie momentan stiller sind, sind die 45% Trumpist*innen immer noch da. Sie warten auf den Moment, in dem wieder negative Botschaften über Harris und die Demokrat*innen Platz haben. Die Zeit dafür wird kommen, irgendwann sind die Hymnen auf Harris gesungen und die Logik der veröffentlichten Meinung verlangt wieder nach einem Stimmungswechsel. Bis dahin sollten die Demokrat*innen die Führung übernommen haben und ihre Unterstützung unter den eigenen Wähler*innen so weit konsolidiert haben, dass da kein Einbruch mehr erfolgen kann wie in Bidens letzten Monaten. Harris und ihr Team tun alles dafür, bringen Bundesstaaten wieder auf den Tisch, die unter Biden schon aussichtslos verloren schienen. Die Leute verstehen ihr Handwerk: Es sind großteils die Biden-Leute. Auch daran merkt man, dass der nun zurückgezogene Kandidat tatsächlich das größte Problem der Kampagne war.