don’t trust the kamalamentum

10 Tage sind vergangen, seitdem ein Verrückter unter aufklärungswürdigen Umständen auf Donald Trump geschossen und den Ex-Präsidenten um Haaresbreite umgebracht hätte. Jetzt sei die Wahl entscheiden, DAS Foto des Wahlkampfs sei geschossen, die Demokrat*innen könnten für die Opposition planen, die internationale Politik sich auf ein Chaos ohne Weltpolizei vorbereiten. Da waren sich viele im Schock einig.

Aber „a week in politics is a lifetime“: Seitdem hat Trump seinen neuen Mike Pence vorgestellt – der traut sich was: Seinen letzten Vize wollte Trump am Schluss hängen sehen, wie Verkehrsminister Buttigieg hier ausführt. Die Chefin des Secret Service ist zurückgetreten, Joe Biden ist entgegen Behauptungen der reichweitenstärksten rechtsradikalen Online-Trolle zwar am Leben, hat den Demokrat*innen aber eine neue Kandidatin geschenkt. Mit fleißiger Mithilfe der wahrscheinlich mächtigsten Frau der Welt, deren Mann fast einem Attentat zum Opfer geworden wäre, über das die Trumps spotten. Aber das ist eine andere Geschichte. Kamala Harris, die vielgescholtene, aufdringliche, unsichtbare, machtbesessene, ineffektive, zu lustige, zu ernste, zu alte, zu junge, zu schwarze, zu weiße Vizepräsidentin, soll es jetzt richten. Und nach allen vorhandenen Indikatoren der ersten paar Tage seit Bekanntgabe ihrer Kandidatur anstelle Bidens, muss man sagen: Yes, she can. Si, se puede.

Die Indikatoren sind: Erstens, hauen die Leute jetzt Kohle in die Kampagne, die seit Bidens Debatten-Desaster systematisch finanziell ausgeblutet ist? Ja, sie hauen rein. Der erste Tag von Kamala Harris als wahrscheinliche Kandidatin war der Tag mit den meisten Spenden aller Zeiten für eine Kandidatin.

Zweiter Indikator: Schließen sich die Reihen? Ja, tun sie. Alle wichtigen Demokrat*innen außer Obama (und der aus taktischen Gründen, weil er gerne letzte neutrale Instanz ist) haben sich hinter Harris gestellt. Es gibt keine relevante Gegenkandidatur am Parteitag, Bidens Team macht großteils weiter, die Großspender*innen haben wieder auf die richtigen Knöpfe gedrückt.

Dritter Indikator: Ihr erster Auftritt danach – schaut selber, wie sie die Leute in einer High School im Swing State Wisconsin zum toben bringt. Das ist viel besser als alles, was Biden in den letzten zwei Jahren gezeigt hat. Und es lässt trotzdem noch Luft nach oben. Sie kann jedenfalls Reden wie eine Einserin.

Vierter Indikator: Die Umfragen. Achtung, das ist zu frisch für dauerhafte Substanz. Aber nach drei Tagen und einer ganzen Batterie an Umfragen kann man sagen: Wenn es eine Richtung gibt, dann die Richtige für Harris. Das kann natürlich auch nur eine Momentaufnahme sein, weil sie momentan auf allen Kanälen spielt und wieder zurückgehen. Ein gutes Bild über den wirklichen Effekt von großen Neuigkeiten für Umfragen hast du immer erst nach 7-10 Tagen. Also hier Geduld.

Und auch wenn 3 1/2 von vier Kriterien positiv sind: Vorsicht. In 10 Tagen kann das schon wieder alles ganz anders aussehen. Ja, es gibt ein paar programmierte Events in den kommenden Wochen, die Harris helfen sollten. Sie hat noch einen Vize vorzustellen – das ist natürlich eine Gelegenheit, bei der der tendenziell zusätzliche Wähler*innen auf deine Seite kriegst. Und der dreitägige Parteitag, der in ihrem Fall eine Krönung wird, bei der alle demokratischen Stars und Sternchen ihr den Teppich ausrollen werden – auch das bringt normalerweise zusätzlichen Rückenwind.

And then again, um auf der sicheren Seite zu sein, brauchst du als Demokrat*in 3% Vorsprung bundesweit. Davon, dass das konsistent auch nur in den Umfragen so wäre, sind wir weit entfernt. Es gilt jetzt zunächst, die Reihen zu schließen und alle an Bord zu bringen, die demokratisch wählen wollen, aber bei Biden Zweifel hatten. Nur, wenn das gelingt, dann gibt’s eine Chance auf einen Wahlsieg im November, für den dann auch noch haufenweise Wechselwähler*innen überzeugt werden müssen und Leute zum Wählen gebracht werden müssen, die das System und die Demokratische Partei eigentlich abgeschrieben haben, auch wenn sie wenn dann Demokrat*innen sind.

Ein Anfang ist gemacht. Trumps Chancen stehen deutlich schlechter als vor einer Woche. Das darf gerne so weitergehen. Aber es wird Aufs und Abs geben: Versprochen.

PS: Ich begleite die Leser*innen hier gerne bis zur Angelobung im Jänner durch diese Aufs und Abs und freue mich abschließend über 50 neue Abonnent*innen – fast 700 lesen jetzt schon mit. Wenn Sie den Blog mögen, empfehlen sie ihn doch weiter. Sie wissen ja: Mailadresse eintragen, dann kommt alles direkt in die Mailbox.

biden out. kamala harris in. was für eine chance.

Sparen wir uns die Diskussionen darüber, wer nach Joe Bidens Rückzug als Kandidat das Weiße Haus, die USA und die Welt vor Donald Trumps zweiter Amtszeit schützen soll. Kamala Harris ist gesetzt. Wer jetzt, nach Wochen des selbstschädigenden intern-öffentlichen Armdrückens, die legitime Nachfolgerin und gewählte Stellvertreterin des Präsidenten, die Vertreterin der Mehrheit der Wähler*innen als Frau und der Mehrheit der demokratischen Wähler*innen als Woman of Color stellt, wird dafür kein Verständnis bei den Entscheidungsträger*innen der Partei ernten. Es wird sich schon irgendein Verrückter finden, der die Bühne nützt. Aber es gibt keinen Grund und kein nachvollziehbares Motiv, die jetzt endlich gefundene Lösung, gegen den Willen Bidens und Harris, zu gefährden.

Die zwei interessantesten Fragen sind also:

Was wird das für ein Rennen?

Und mit wem gemeinsam steigt Harris in den Ring.

Zu 1.: Harris liegt in Umfragen besser als Biden, aber maximal gleichauf mit Trump. Nicht vergessen: sie und ihr Vize werden bundesweit 3% Vorsprung brauchen, um wegen des komplexen Wahlsystems auch verlässlich ins Weiße Haus einzuziehen. Am wahrscheinlichsten kriegt Harris jetzt einen Boost in den Umfragen, überholt Trump, dann werden wüsteste Attacken auf ihren Charakter und Integrität folgen und wir haben ein offenes Rennen. Ich würde sagen, die Fundamentals – Themenlage, Personen, ökonomische Faktoren – favorisieren die demokratische Kandidatin gegen Trump, sogar relativ deutlich.

Zu 2.: Es ist unbestritten, dass ein weißer Mann ihr Vizekandidat wird. Da gibt es drei Männern aus Swing States, die neben einer attraktiven Kandidatur auch noch bessere Chancen in einem umkämpften Bundesstaat bringen könnten:

North Carolinas Gouverneur Roy Cooper hat diesen knappen Bundesstaat bereits 2 Mal als Gouverneur gewonnen. Er gilt als moderat, gewinnend und sympathisch. Allerdings ist er mit 67 nicht mehr der Jüngste.

Pennsylvanias Gouverneur Josh Shapiro wäre eine direkte Ansage für die drei Bundesstaaten, die früher als „Blue Wall“ die Lebensversicherung der Democrats bei US-Wahlen galten. Der 51-jährige hat den Must-Win-Bundesstaat für Harris 2022 mit 15% Vorsprung gewonnen. Er wäre wahrscheinlich die stärkste Karte.

Arizonas Senator Kelly hat diesen ebenfalls kritischen Bundesstaat zwei Mal gewonnen, allerdings mit knapperen Abständen. Der ehemalige Astronaut ist mit der ehemaligen Politikerin Gaby Giffords verheiratet, die Opfer eines Schusswaffenattentats wurde und seitdem vor allem zu diesem Thema arbeitet. Kelly gilt als einer der moderatesten demokratischen Senatoren. Allerdings würde der 61-jährige damit auch einen gefährdeten Sitz im Senat aufgeben, den die Demokrat*innen dringend brauchen.

Daneben wurden Kentuckys Gouverneur Beshear, Verkehrsminister Buttigieg und Kaliforniens Gouverneur Newsom immer wieder genannt. Beshear kommt aus keinem gewinnbaren Bundesstaat. Newsom ist faktisch unwählbar, weil Präsident und Vize nicht aus dem gleichen Bundesstaat kommen dürfen. Und Buttigieg ist mit einem Mann verheiratet: das ist nicht, womit die Democrats glauben, Wechselwähler*innen gewinnen zu können.

Ein letzter Gedanke für heute: Unbestritten ist, dass Kamala Harris Chancen hat, im November als Präsidentin gewählt zu werden. Die Daten sind da völlig klar. Manche sagen, es ist schwer, 20%. Andere sagen 50:50. Ich sage, ihre Chancen liegen bei 80%. Aber wer jetzt noch schreibt oder postet, sie hat nie im Leben einen Funken einer Chance, hat andere Motive als eine seriöse Einschätzung. Ihr werdet hauptsächlich Männer sehen, die das schreiben. Es sagt mehr über diese Männer als über Kamala Harris.

trump hat seinen nachfolger gekürt

TV-Debattenkatastrophe, Ablösekämpfe, Attentat auf Trump, Nominierung des Vizepräsidentschaftskandidaten: Die US-Politik ist ein Staccato im Prestissimo. Aber langsam. Schauen wir uns den Rahmen an:

Drei Wochen nach einer von nur zwei TV-Debatten der mutmaßlichen Kandidaten, sind die Umfragen wieder ungefähr da, wo sie davor waren. Es ist ein knappes Rennen mit nur leichtem Vorteil Trump – vor allem deshalb, weil die Reaktion der Wähler*innen auf das versuchte Attentat auf Trump noch nicht eingepreist ist. Hier gilt, wie immer: Wir müssen 10 Tage warten, bis die Umfragen so einen Effekt abbilden, so vorhanden. Und noch einmal 10 Tage, bis wir wissen, ob das eine Momentaufnahme war, oder ob sich etwas Fundamentales verschoben hat. Meine Vermutung wäre: Wir werden weiterhin knappe Umfragen haben. Das rettet auch Joe Bidens Kandidatur, die einige Tage massiv in Gefahr war. Und absurderweise hat auch der Mörder von Pennsylvania dazu beigetragen, dass Biden wieder fester im Sattel sitzt. In einer nationalen Krise wechselt man den Präsidenten nicht aus, das wissen die Demokrat*innen natürlich.

Mit seiner Auswahl des Vizepräsidentschaftskandidaten, hat Trump allerdings ein Vorzeichen vor den Präsidentschaftswahlkampf gesetzt, das nicht, wie ein noch so dramatisches einmaliges Ereignis, wieder weg geht. Die TV-Debatte und das Attentat werden in vier Monaten vier Monate her sein, eine gefühlte Ewigkeit. Aber James Donald Bowman, der jetzt nach seinen Stief-Großeltern JD Vance heißt, der wird auch dann noch auf dem Zettel stehen, auf dem die Wähler*innen ihr Kreuz machen oder wo sie ihren Finger auf dem Bildschirm hindrücken sollen. Und die 39-jährige Personalie Vance aus dem Bundesstaat Ohio ist ein Statement von Trump.

Denn Vizepräsident*innenschaftskandidat*innen bewegen zwar nicht messbar als Person viele Prozentpunkte, aber sie ändern mit ihrer Person und ihrer Positionierung Debatten, sie helfen Schwächen der Nummer 1 auszugleichen: Denken wir an den damals schon alten Joe Biden als Vize des jungen Barack Obama, denken wir an die erzrechte Sarah Palin als Vize des moderaten John McCain und so weiter.

Donald Trump hat auf all diese Logiken keinen Cent gegeben. Er hat keinen Vize ausgewählt, sondern einen Nachfolger. Er hätte eine gute Bank an Vizes gehabt, die ihm wahlstrategisch bessere Chancen gebracht hätten – einen relativ jungen Latino mit Marco Rubio, einen als moderat wahrgenommenen Gouverneur mit Doug Burgum, eine Reihe sehr auffälliger Frauen wie Kristi Noem, Elise Stefanik oder Kari Lake oder der „rote“ Gouverneur des „blauen“ Virginia, Glenn Youngkin. Aber Trump hält die Wahl für schon gewonnen und hat sich den ausgesucht, der ihm am nächsten steht. Jener Kandidat, der Trump früher „Amerikas Hitler“ genannt und sich selbst als „Never Trumper“ bezeichnet hat. Well, not so much.

Das sagt uns was über Trumps Einschätzung der Situation. Aber es könnte eine grobe Fehleinschätzung sein. Denn während eine moderate (oder so wahrgenommene) Nummer Zwei das ohnehin schon vorhandene wahltaktische Dilemma der Demokrat*innen vergrößert und die Debatte um Bidens Rückzug möglicherweise verschärft hätte, könnte die Personalie JD Vance bei den Demokrat*innen zum Schulterschluss führen. Denn er ist inhaltlich ein Kandidat aus den Träumen der demokratischen Strateg*innen.

Nicht nur, dass der mit einer kalifornischen Anwältin verheiratete Vater dreier Kinder wüste Dinge über Trump gesagt hat, die jetzt vier Monate lang auf und ab zitiert werden. Er bringt ihnen vor allem zwei Themen auf den Tisch, die für die Demokrat*innen ein Heimspiel sind. Nach wie vor ist die Amour fou Trumps mit Russland ein Problem auch in Teilen der republikanischen Wähler*innenschaft – nicht zuletzt seine letzte Konkurrentin in der Vorwahl positionierte sich hier komplett anders als Trump. Auch über 30% der republikanischen Wähler*innen vertreten hier nicht Trumps Position, die Hilfe an die Ukraine zu reduzieren oder einzustellen. Und Joe Biden hatte gerade die NATO zu sich bei Besuch und wollte über das Thema US-Außenpolitik wieder auf die Beine kommen. Es wird den Demokrat*innen helfen, dass der Kontrast hier bei einem der wenigen starken Themen von Biden, bei dem die Mehrheit der US-Amerikaner*innen auf seiner Seite sind, hier durch Trumps erkorenen Vize und Nachfolger noch stärker wird.

Das gilt noch mehr für das Thema Schwangerschaftabbruch: Seitdem das von Trump gedrehte Höchstgericht den Weg für radikale Anti-Abbruchsgesetzgebung in den Bundesstaaten freigegeben hat und schon fast alle republikanisch dominierten Staaten aus legalen Abtreibungen eine Straftat gemacht haben, haben die Demokrat*innen bei Wahlen deutlich besser als prognostiziert abgeschnitten. Auch in republikanisch dominierten Staaten wie Kansas, gingen Volksabstimmungen zu Gunsten der Beibehaltung legaler Schwangerschaftsabbruchs-Möglichkeiten aus. Die eingeschränkte Selbstbestimmung von Frauen über ihren Körper und die Bedrohung weiterer liberaler Errungenschaften wie die Ehe für Alle, sind Mobilisierungsfaktoren für demokratische Wähler*innen und bringen solche aus der Mitte dazu, demokratische Kandidat*innen zu wählen. JD Vance ist, entgegen über 80% der Amerikaner*innen, für eine bundesweites ausnahmsloses Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen: Sogar in Fällen von Vergewaltigung und Lebensgefahr für die Mutter. Diese Positionierung werden die Demokrat*innen für ihre Kampagne nutzen. Denn Trump schwindelt sich an diesem Thema, so gut wie möglich, vorbei.

Donald Trump hat sich entschieden, eine für viele Beobachter*innen (zu Unrecht!) schon für entschieden gehaltene Wahl, durch seinen Vize- und Nachfolgekandidaten, wieder sehr spannend zu machen. Last not least redet der um den Putschversuch vom 6. Jänner nämlich auch gar nicht herum, sondern sagt, an Mike Pence Stelle hätte er die Wahl nicht bestätigt. Es ist also ein lupenreiner Putschist und radikaler Gegner legaler Schwangerschaftsabbrüche, der Trump früher „Hitler“ genannt hat, mit dem gemeinsam Trump ins Rennen geht. Und das ist dadurch jedenfalls wieder offener als davor.

vier monate zeit, die welt zu retten

Es bleibt eine kleine Restwahrscheinlichkeit, aber eigentlich ist es nur eine Frage der Zeit: US-Präsident Joe Biden wird im November höchstwahrscheinlich nicht der Kandidat sein, der eine erneute Machtergreifung Donald Trumps zu verhindern versucht. Sein desaströser Auftritt bei der TV-Debatte vor einer Woche hat die ohnehin mittelmäßigen Umfragewerte noch einmal deutlich verschlechtert. In den Umfragen dreier großer und angesehener Institutionen – von CNN, der New York Times und dem Wall Street Journal – liegt Biden heute 6-8% hinter Trump. Und wenn man mitbedenkt, dass aufgrund der Wahlarithmetik Demokrat*innen 2% vorne sein müssen, um bei den entscheidenden Wahlleuten auf Augenhöhe mit den Republikaner*innen zu sein, heißt das: Joe Biden fehlen 10%, um in den nächsten vier Monaten die Welt ein zweites Mal vor Donald Trump zu retten. Das geht sich höchstwahrscheinlich nicht aus. Und das wissen die Demokrat*innen.

Dass alles, was nach so einer TV-Debatte an Konsolidierung nach innen notwendig wäre, ausgeblieben sein soll, das stärkt das Vertrauen seiner Partei in die Manövrierfähigkeit der Person Biden und in die Kompetenz der ihn umgebenden Berater*innen auch nicht. Weder habe Biden die wichtigen Meinungsmacher*innen innerhalb der Partei persönlich angerufen und sie auf seine Kampagne einzuschwören versucht. Noch hat er eine Tour durch alle Medien gestartet, um zu beweisen, dass Mittwochnacht nur ein Aussetzer war und nicht sein Dauerzustand. Genau das zu beweisen hat, als Cherry on Top einer ohnehin katastrophal verlaufenden öffentlichen Debatte über seinen Rückzug, dann auch noch die demokratische Ikone Nancy Pelosi, öffentlich von ihm gefordert. Michigans demokratische Gouverneurin Gretchen Whitmer, ein politisches Schwergewicht und eine Zukunftsaktie der Partei, wurde damit zitiert, ihr Bundesstaat sein für Biden nicht mehr gewinnbar – das ist aber ein Must-Win, ohne den es keinen plausiblen Pfad für Biden ins Weiße Haus gibt. Und dann haben noch enge Verbündete Bidens wie der Abgeordnete Clyburn und Senator Whitehouse öffentlich die Frage nach Bidens Amtsfähigkeit offen lassen oder sogar aktiv gestellt. Ein vollkommenes Desaster, das auch Ausdruck von Kontrollverlust des Präsidenten und seines Teams über die Kampagne und die Partei ist.

Wenn jetzt nicht von irgendeiner Wolke ein Obama oder Clinton herunterfällt, der noch einmal mit all seinem politischen Gewicht die Debatte zu beenden versucht, dann ist der Rückzug Bidens von der Kandidatur keine Frage des „ob“, sondern nur eine des „wann“ und des „wie“.

Es geht nichts ohne Vizepräsidentin Kamala Harris. Sie ist seine legitime politische Erbin. Wenn sie will, dann wird ihre Partei sie zur Kandidatin machen müssen. Auch wenn ihre Persönlichkeitswerte ausbaufähig und ihre Umfragen schlechter wie etwa jene einer Michelle Obama sind. Würde man Harris allerdings übergehen oder wegloben, müsste sich die Demokratische Partei schon auch die Frage gefallen lassen, ob die beiden Spitzen ihrer Partei in den höchsten Ämtern des Staates eigentlich ungeeignet waren und warum man denn jetzt den Herrn X oder die Frau Y, die stattdessen kommen, für geeigneter halten soll.

Insofern, wahrscheinlichste Variante: Harris übernimmt nächste Woche das Zepter der Kandidatur von Biden. Als Präsident bleibt Biden: Denn würde Harris Präsidentin, müssten die Demokrat*innen eine*n neue*n Vize durch beide Häuser des Kongresses bringen – und im House haben sie keine Mehrheit. Praktisch würde man die drei, vier notwendigen Stimmen schon bekommen. Aber es gibt eigentlich keine Notwendigkeit für diese Zusatzaufgabe. Es wird Arbeit genug, eine mittelmäßig beliebte Politikerin mit leichtem Rückstand in den Umfragen auf Spitzenkandidatin zu trimmen, die Partei hinter ihr und einem Vize-Kandidaten (das wird ein weißer Mann) zu versammeln und die Rettung der Welt vor Donald Trump in vier Monaten auf die Beine zu stellen.

Thematisch stehen die Chancen dafür nach wie vor gut: Neben all dem Wirbel darf man nicht vergessen, dass die US-Amerikaner*innen sehr stark entlang der wirtschaftlichen Lage und anderer sie unmittelbar betreffenden Themen wählen und abwählen. Stärkstes Wahlmotiv der Wahlgänge in den letzten zwei Jahren war regelmäßig das von Donald Trumps Gericht durchgedrückte Ende bundesweit möglicher Schwangerschaftsabbrüche. Dazu kommt das letzte Urteil des Trump-Höchstgerichts, das für dessen politischen Aktivitäten als Präsident Immunität zugesagt hat, auch ein Mobilisierungsfaktor für demokratische Wähler*innen. In ihrer abweichenden Begründung zur Ablehnung dieses Urteils hat eine der beiden von Obama nominierten Höchstrichter*innen geschrieben, sie lehne es ab, einen Präsidenten zum König zu machen – „in fear for our democracy.“

Wenn die amerikanische Demokratie gefährdet ist – und das ist sie ohne Zweifel – dann sind es auch die anderen Demokratien auf der Welt: Wegen ähnlicher politischer Phänomene, aber auch unmittelbar, weil ein verlässlicher Partner wegfällt und ein Unberechenbarer oberster Kommandant der größten militärischen Streitmacht der Welt wird.

Das können die Demokrat*innen verhindern: Sie sollten es mit dem besten realistisch möglichen Team tun. Und da hat Joe Biden nur mehr die Rolle als outgoing president.

zieht sich biden zurück?

Heute Nacht hatte Joe Biden im ersten von zwei geplanten TV-Duellen gegen Donald Trump die 15 Sekunden, die nicht passieren durften: Er verlor den Faden, stotterte sich durch Schlagwörter von drei Themen und konnte Satz und Gedanken nicht beenden. Dass Trump einmal mehr log, dass sich die Balken bogen, das wird in der US-Berichterstattung zur Nebensache. Biden sei nicht mehr zu halten, das ist der Tenor und er geht weit bis in linke und liberale Medien hinein.

Kann die Partei Biden zum Rücktritt zwingen?

Als Präsident wäre Biden nur dann zum Rücktritt zwingbar, wenn die Vizepräsidentin und die Hälfte des Kabinetts in als amtsunfähig erklären und zwei Drittel von Repräsentant*innenhaus und Senat dem zustimmen würden. Das ist in der Praxis undenkbar und würde die Wahlchancen für November noch weiter minimieren – umso mehr, als das Prozedere, ihm die bereits nominell gewonnene Kandidatur zu entziehen, gegen seinen Willen schwierig wäre.

Wie kann der/die Kandidat*in wechseln?

Die 4.000 Delegierten zum Parteitag, die Biden am 19. August zum Kandidaten küren sollten, sind theoretisch an das Votum ihres Bundesstaates bei den Vorwahlen gebunden. Praktisch können sie aber mit einem Geschäftsordnungstrick, wenn sie es „mit dem guten Gewissen vereinbaren können, dass das auch die Meinung jener sei, die sie gewählt haben.“ Das kann also theoretisch auch noch ganz kurz vor der Versammlung passieren.

Was ist ein realistisches Szenario?

Zwei Möglichkeiten sind (unterschiedlich) wahrscheinlich, falls Biden sich zurückziehen sollte: Eine Möglichkeit wäre, dass er selbst eine*n andere*n Kandidat*in empfiehlt und auch seinen Delegierten diese Wahl empfiehlt. Das wäre höchstwahrscheinlich seine Vizepräsidentin Kamala Harris, auch wenn sie bei weitem nicht die Kandidatin mit den besten Chancen wäre, Donald Trump zu schlagen. Biden könnte das zementieren, indem er auch als Präsident zurücktritt und Harris Präsidentin würde. Dann wäre es eine Formsache, dass sie der Parteitag auch zur Kandidatin macht. Eine zweite Möglichkeit wäre, dass Biden Präsident bleibt, aber seine Kandidatur zurückzieht und das weitere Verfahren in die Hände der Partei legt. Das wären dann turbulente Wochen bis zum Parteitag, aber es gebe dann eine*n legitime*n Kandidat*in. Ob bei einem solchen internen Blitzwahlkampf aber nicht so viel Glas zerbrechen würde, dass es keine Chance mehr im November gebe, ist nicht auszuschließen.

Wer kommt außer Kamala Harris in Frage als Biden-Ersatz?

Am wahrscheinlichsten wären das folgende Kandidat*innen:

Außenminister Anthony Blinken wäre ein Kandidaten wie aus dem Buch: Außenpolitiker, New Yorker, seriös bis zum geht nicht mehr, unbestrittener Fachmann, Regierungserfahrung an den heißesten Verhandlungstischen der Welt.

Die beiden Gouverneur*innen aus dem Mittleren Westen, Pennsylvanias Josh Shapiro und Michigans Gretchen Whitmer, haben Must-Win-Bundesstaaten für die Demokrat*innen im November, vor eineinhalb Jahren selber sehr deutlich gewonnen. Das erhöht nicht nur deren eigene Chancen in diesen Staaten, es zeigt auch, dass sie großen Party-Crossover-Appeal haben.

Michelle Obama und Hillary Clinton haben beide eine sehr plausible Geschichte zu erzählen, warum sie Trumps zweite Amtszeit verhindern. Ob das die Wähler*innen auch so sehen, das ist die 100.000-Dollar-Frage: Zustimmungs/Ablehungs-Umfragen bei nicht amtierenden Politiker*innen, die oft ins Treffen geführt werden, sind nie 1:1 in Umfragen und Wahlergebnisse übersetzbar. Aber beides wären trotzdem Signale aus der Vergangenheit. Ob das die Mehrheit brächte: I reserve my doubts.


What’s next?

Die Drähte laufen jetzt garantiert heiß. Politiker*innen und Spender*innen werden massiven Druck aufbauen, dass Biden den Schritt zur Seite macht. Es braucht keine Entscheidung von heute auf morgen, man kann auch 10-14 Tage warten, ob die Umfragen so dramatisch sind wie die erste Reaktion von Medien und Politik nach dem TV-Duell. Die demokratische Rechnung war immer, wenn die Biden-skeptischen Wähler*innen in Richtung Herbst zurück kommen, dann geht sich der Sieg gegen Trump aus. Dass die Biden-Skeptiker*innen zurückkommen, das ist heute Nacht nicht wahrscheinlicher geworden. Und one die wird sich das nicht ausgehen.

heute nacht erster showdown biden vs trump

Es gibt begründeten Zweifel an den Umfragen, in denen mal der eine, mal der andere Kandidat vorne liegt. Aber Tatsache ist, einen Monat nach Trumps Verurteilung: das hat das Rennen ums Weiße Haus nicht gedreht. Ein Deep Dive der „New York Times“ mit Wähler*innen, die im Herbst gesagt hatten, sie würden Trump doch nicht wählen, würde er verurteilt werden, zeigt warum: Diese Wähler*innen sagen, sie hätten ein anderes Verfahren als das Schweigegeld-Verfahren gemeint, als sie die Antwort gegeben hatten.

Ob das eine Ausrede ist oder nicht: Wir haben nach wie vor ein ganz knappes Rennen. Donald Trump setzt voll auf Bidens augenscheinlich hohes Alter: das machen Umfragen als Bidens größte Schwäche aus und Trumps Lager bringt ununterbrochen echte und gefakete Videos, in denen Biden wenig subtil in Situationen gezeigt wird, die sein hohes Alter betonen sollen. Aber auch von Trump kursieren Videos mit Namensverwechslungen und eingefrorenen Momenten. Tatsache ist jedenfalls, dass beide Kandidaten keine 60 mehr sind. Aber weil Trump das Temperament eines 5jährigen hat, wirkt er gefühlt viel jünger als der staatstragende Biden.

Bei den Dems herrscht die Überzeugung vor, dass man programmatisch eine Mehrheit auf seiner Seite habe – und Trump mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch schlagen kann. Und tatsächlich haben seit dem Ende des US-weiten Verbots von Schwangerschaftsabbruch-Verboten vor zwei Jahren die Dems bei allen Wahlen stärker abgeschnitten, als man das aufgrund früherer Wahlergebnisse in den jeweiligen Wahlkreisen annehmen könnte. Das Thema ist für junge Wähler*innen, bei denen die Dems ein Mobilisierungsproblem haben, zentral. Und viele von ihnen erleben in den knapp 20 Bundesstaaten, die Abbrüche inzwischen verboten haben, welch enormer Aufwand und welches Risiko es jetzt für Frauen bedeutet, ihre Schwangerschaft in einem anderen Bundesstaat oder illegalisiert zu beenden.

Aber weil die Umfragen so weit auseinanderliegen, ist eine seriöse Prognose momentan schwierig. Gäbe es die Umfragen nicht, sondern nur die Wahlergebnisse der letzten zwei Jahre, würden alle von einem klaren Biden-Sieg ausgehen. Und heute Nacht treffen sich die beiden ein von insgesamt nur zwei Malen bis November, zu einem direkten TV-Duell, mit strikten Regeln: Mikros sind aus, wenn du nicht dran bist, strenge Redezeitbeschränkung, kein Publikum.

Worauf alle schauen: leistet sich einer der Kandidaten einen groben Fehler, einen wilden Versprecher, ein Blackout? So etwas könnte Einfluss auf das Rennen nehmen. Aber insgesamt steht es ca 50:50 und daran wird sich bis November wenig ändern, weil die Polarisierung so stark ist. Ich bleibe bei 90:10 für Biden, weil ich glaube, dass die jetzt skeptischen Dems zum Wählen dann zurückkommen, je näher der Wahltermin kommt und je klarer der Kontrast zwischen Demokratie und Trumpokratur wird.

Ach, Innsbruck.

Die ersten Auftritte des neu gewählten Innsbrucker Bürgermeisters Anzengruber & seinem zukünftigen Vize Georg Willi zeigen, dass sie die gemeinsamen Gegner*innen einen, die im Gemeinderat zurecht auf Kleinfraktionengröße zusammengestutzt worden sind. Das ist kein schlechter Anfang für eine gute Zusammenarbeit – inhaltliche Differenzen natürlich trotzdem groß.

Trotzdem: Anzengruber war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, hat eine saubere Kampagne aufgezogen: und zwar nicht Krönungsparteitag vor 1.000 geladenen Gästen, sondern Wirtshaustour zum Forderungen einsammeln. Die mit dem Krönungsparteitag haben ihm eine schöne Abziehfolie geliefert und gar alles falsch gemacht. Hinausgemobbt, hinausgeekelt, Uniarbeiten untersuchen lassen, Anwalt auf den Hals gehetzt: so macht man einen Kandidaten beliebt. David gegen Goliath – da ist klar, wen die Leute wollen.

Und dann ist da noch die strukturelle Mehrheit in Innsbruck, das 2024 zum allerersten Mal eine nicht-rechte Mehrheit im Gemeinderat hat – aber das nur unter Einbeziehung von zwei ehem ÖVP-Listen mit gemeinsam fast 10% in die „Nicht-Rechten“.

Soll heißen: das ist eine Stadt, in der nur in einer Ausnahmesituation ein Grüner (od. eine Rote) über 50% machen kann. 2018 war so eine Ausnahmesituation mit der extrem unbeliebten Bürgermeisterin.

2024 ist wieder normal: Anzengruber ist die ÖVP, wie sie früher einmal war: bei den Leuten, Tradition, Wirtshaus, Softshelljacke, Hands on statt teure PR.

Und deshalb gewinnt er auch: ein konservativer David, in der einen Hand die Schleuder, in der anderen einen Teller Kaspressknödel.

Die Weisheit der Wählerinnen beschert ihm trotzdem nur mit Grün und Rot eine Mehrheit – Caprese statt Kaspressknödel steht am Menü. Und es wird spannend, wie die Chef-schafft-an-Mentalität mit der renitenten Innsbrucker Beamtinnenschaft und mit zwei erfahrenen Koalitionspartner*innen zusammengeht.

Fad wird‘s nicht.

innsbruck braucht (immernoch) keinen schwarzen bürgermeister

Facebook-Seite von Johannes Anzengruber, Screenshot am 22.4.2024

All due respect: Ich hab überhaupt nix gegen wishful thinking. Aber wie Johannes Anzengruber jetzt zum parteifreien Rebellen stilisiert wird, das ist mehr Kitsch als Realität.

Wer sich die Mühe macht, nachzulesen, wie Anzengruber und seine engste Mitstreiterin Mariella Lutz sich im Innsbrucker Gemeinderat verhalten haben, zu Luxusinvestoren-Projekten, zu Tempo 30, zu verpflichtendem öffentlichen Wohnbau auf Spekulantenbauland, wie jeder neue Zebrastreifen (!), jede Radabstellanlage und jeder neuen Radweg von ihnen betoniert oder öffentlich geharnischt wurde und und und…muss den Kitsch einfach revidieren. Und da bin ich noch gar nicht beim früheren Anhimmeln des Heiligen Sebastian mit jedem erdenklichen Werbemittel, das sich dessen Propaganda ausgedacht hat, bis hinauf auf die Arzler Alm.

Es gibt auch überhaupt keinen Anhaltspunkt, dass sich das inhaltlich ändern wird.

Es ist der Weisheit der Wähler*innen zu verdanken, die Schwarz-Schwarz-Blau die Mehrheit genommen haben, dass wir überhaupt über eine Koalition links der Mitte in Innsbruck reden.

Es wird nur dann eine solche werden, wenn der alte Bürgermeister Georg Willi mit neuer Mehrheit weitermachen kann. Anzengruber hat zum richtigen Zeitpunkt das für ihn optimale gemacht, mit einem geschickten Wahlkampf – fair enough.

Aber das Potenzial für ein Aufbrechen der erstarrten Stadtpolitik jenseits von Schwarz-Blau, das haben wir den Wähler*innen von Grün, Rot, KPÖ, Fritzen und ALI zu verdanken.

Und die sollten jetzt auch einen Bürgermeister wählen, der nicht 95% des ÖVP-Programms vertritt, keinen schwarzen Bürgermeister, sondern einen, der mit neuen Mehrheiten etwas ganz anders machen will als die ÖVP: Nämlich Schluss mit Immospekulantenprojekten und her mit leistbares Wohnraum, her mit Tempo 30 und her mit einer fetten Leerstandsabgabe.

Der eine vertritt die Mieter*innen. Der andere die Großgrundbesitzer*innen. Keine schwere Wahl.