Zwei Wochen jeden Tag auf einer anderen Alm – und mehr gelernt, als bei der Lektüre dutzender Bücher. Ich kann keine quantitative Studie anbieten, aber was ich gehört habe, ist es trotzdem wert, erzählt zu werden. Zuallererst: Die Alm-ÖsterreicherInnen sind nicht unpolitisch und nicht politikverdrossen. Sie diskutieren, entgegen meine Erwartungen, nicht leidenschaftlich über Gipfelsiege und Almrouten, sondern über Griechenland, über die „Ausländer“ und über Brüssel. Und zwar mitunter stundenlang. Für mich als Innenstadt-Bobo ist die Alm einer der wenigen Orte, wo ich Berürhungspunkte mit gemeinen ÖsterreicherInnen habe – gerade deshalb ist es da oben oft so lehrreich.
Gezählte 9 ausführliche Unterhaltungen hab ich so lange unverschämt belauscht, bis ich glaubte, ein Muster zu erkennen. Alle Unterhaltungen haben mit der persönlichen Situation am Arbeitsplatz von einem/einer der GesprächspartnerInnen angefangen und waren in Nullkommanichts eben bei Griechenland, bei den „Ausländern“ und bei Brüssel. Der Tenor: Die Firmen bauen Angestellte ab und lagern ihre Produktion in fremde Länder aus, die Manager verdienen sich mehrere goldene Nasen oder fette ebensolche Handshakes, zwangspensionieren teure „alte“ Arbeitskräfte und die Republik hat anstatt die ArbeitnehmerInnen zu schützen und den Unternehmen Fesseln anzulegen nichts besseres zu tun, als „die faulen Griechen“ durchzufüttern.
Das Tragische ist: drei Viertel dieser Gespräche decken sich mit meiner Wahrnehmung – und die Schlüsse klingen, wie aus der Feder von FPÖ-Generalsekretär Kickl. Das ist deshalb so tragisch, weil die Anziehungskraft der Rechtsradikalen weit über dummdreiste Nazis hinausreicht. Es sind die von der FPÖ vorgegebenen Themen, die dazu führen, dass ganz normale ÖsterreicherInnen sich in ihrer Freizeit über Politik unterhalten. Und es sind falsche FPÖ-Antworten, die sich die gemeinen ÖsterreicherInnen auf selbst gestellte Fragen aus ihrem Alltag geben. Was ist da passiert?
Der Kapitalismus führt, besonders in der Krise, zu einer Verknappung von gesellschaftlichem Wohlstand, der sich hunderttausende Male auf individueller Ebene in hunderttausend Geld-, Prestige- und Sicherheitsverlusten abspielt. Ob man stolzer Stahlarbeiter oder von Kündigung bedrohter Kurzarbeiter ist drückt ebenso auf die Selbstverortung in der Gesellschaft, wie ob frau noch eine echte Österreicherin sein darf, oder in einem undefinierbaren europäischen Konglomerat aufgeht, wo die Gurkenkrümmung und die Brettljausen normiert werden soll. Ein zurück in die 90er-Jahre gibt’s aber nicht. Zum Glück. Der europäische Einigungsprozess ist – zum Glück – ebensowenig rückgängig zu machen, wie die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts. Dann bleibt noch die Frage, warum diese Menschen sich auf zutiefst sozialdemokratische Fragen zutiefst freiheitliche Antworten geben.
Eine mögliche Erklärung: Wenn die herrschenden Eliten ein politisches System an die Wand fahren und Krisen, die tief in die Lebensbereiche der Menschen hineinspielen, als Zahlenspiele abtun und dann in parteipolitische Kampfhaltung verfallen, um den nächsten Schmutzkübel zu werfen, sinkt ihre Glaubwürdigkeit. Sie werden als „out of touch“ und als abgezirkeltes Machtkartell zu eigenen Gunsten wahrgenommen. Ich bin mir sicher, dass kaum jemand weiß, wie die ORF-GeneraldirektorInnenwahl abläuft – aber dass sich schwarz, rot und grün da irgendwas ausgemacht haben, das haben die gemeinen ÖsterreicherInnen auf der Alm gecheckt. Füttern tun diese antielitären Reflexe dann falsche Propheten wie Hans-Peter Martin oder der allgegenwärtige HC.
Und mögliche Antworten auf dieses Dilemma? Ich glaube, es gibt keine so emotionale und leicht wiederzugebene Erklärung, wie Sündenböcke auszumachen und ihnen die Schuld für alles in die Schuhe zu schieben, was die individuelle Lebenssituation erschwert. Da einzuhaken, wäre also zu spät. Aber die Ärmel hochkrempeln, den Menschen Verständnis für ihre hunderttausenden schwierigen Situationen entgegenzubringen und im eingeschränkten Handlungsspielraum nationaler Gesetzgeber alles zu tun, damit öffentliche Gelder in Menschen und nicht in Prestigeprojekte investiert werden – das wäre einmal ein Anfang. Den Dialog verweigern die BürgerInnen nämlich nicht und desinteressiert sind sie offenbar auch nicht. Zumindest nicht die auf den Tiroler Almen.