Der Zeithistoriker und Journalist Claus Gatterer hat den Begriff geprägt, der Publizist Paul Lendvai hat ihn bekannt gemacht: „Antisemitismus ohne Juden“. Was die beiden damit beschrieben haben, ist die Tendenz, dass die Judenfeindlichkeit keine Juden braucht, sondern mit der Verbreitung antisemitischer Schriften und Parolen beginnt. Hetze fällt auch, oder sogar besonders dort auf fruchtbaren Boden, wo kein Realitäts-Check der Vorurteile stattfinden kann.
Maßstab FPÖ. Jetzt könnte man einen langen definitorischen Streit darüber führen, ob Antisemitismus eine Ausprägung des Rassismus ist oder eher eine pathologische Paranoia. Ich spar mir und euch die Diskussion an dieser Stelle: Ich habe anhand 60 österreichischer Gemeinden untersucht, ob es auch so etwas wie Rassismus ohne AusländerInnen gibt. Eindeutigstes Zeichen für das Vorhandensein von AusländerInnen sind die Daten der Volkszählung der Statistik Austria. Das messbarste vorhandene Zeichen für das Vorhandensein von Rassismus sind die Wahlergebnisse der FPÖ. Deswegen habe ich die Wahlergebnisse der FPÖ bei den letzten beiden Landtagswahlen unter die Lupe genommen und mit dem AusländerInnenanteil in ausgewählten Gemeinden verglichen.
Check. Dazu habe ich die 15 Gemeinden mit dem höchsten AusländerInnenanteil in Kärnten und in Niederösterreich und die 15 Gemeinden mit dem niedrigsten AusländerInnenanteil in beiden Bundesländern herausgesucht. Die Wahlergebnisse der diesjährigen Wahlen in diesen Gemeinden habe ich mit dem AusländerInnenanteil verglichen. Genauer: Ich hab den durchschnittlichen Prozentanteil der FPÖ in den 15 Gemeinden mit den meisten und mit den wenigsten AusländerInnen in beiden Bundesländern ausgerechnet und mit dem Wahlergebnis in Summe aller Gemeinden des jeweiligen Bundeslands verglichen.
Ich nehm’s vorweg. Die stereotype, am weitesten verbreitete Theorie dazu heißt: Je mehr AusländerInnen, desto mehr interkulturelle Kommunikationsprobleme, desto mehr FPÖ-Stimmen, was Ausdruck für mehr Rassismus ist. Diese Theorie ist falsch, wie dieses Chart der Kärntner Ergebnisse zeigt:
Gefunden: Rassismus ohne AusländerInnen. Dort, wo viele AusländerInnen leben, etwa in Spittal an der Drau, in Mallnitz, in Villach oder in Pörtschach, ist die FPÖ schwächer als dort, wo es besonders wenige AusländerInnen gibt – etwa in Fresach, in Diex, in Preitenegg und in Gurk. Wenn man sich die 15 Gemeinden mit dem höchsten und niedrigsten Anteil nicht-österreichischer StaatsbürgerInnen anschaut, kommt dieses erstaunliche Ergebnis heraus: Dort, wo mehr AusländerInnen leben, gibt es weniger FPÖ-Stimmen, also weniger Bekundungen rassistischer Geisteshaltung in den Wahlkabinen.
Double Check. Jetzt könnte man sagen, die Kärntner Landtagswahl 2013 ist in so vielem sensationell und spektakulär, daraus kann man keine theoretischen Erkenntnisse gewinnen. Deswegen hab ich die selbe Rechnung für Niederösterreich angestellt. Und das Resultat ist frappierend ähnlich: Das landesweite Ergebnis, das Ergebnis der „Migrationsgemeinden“ und das Ergebnis der Gemeinden mit wenig AusländerInnen sind annähernd deckungsgleich. In den 15 niederösterreichischen „Migrationsgemeinden“ kommt die FPÖ durchschnittlich auf 8,46%, in den 15 „Nicht-Migrationsgemeinden“ auf 8,31% und im Landesschnitt auf 8,21%. Ob in niederösterreichischen Gemeinden also relativ viele oder so gut wie gar keine AusländerInnen leben, hat keinen Einfluss auf das FPÖ-Ergebnis.
Zwei zusammenhängende Erkenntnisse.
1.) Rassismus sagt etwas über RassistInnen aus, aber nichts über AusländerInnen. In Landstrichen, in denen der einzige „Ausländer“ weit und breit der polnische oder nigerianische Pfarrer oder die slowakische 24-Stunden-Pflegehilfe ist, sind die Wahlergebnisse der FPÖ zumindest gleich gut, wie in städtischen Gegenden, in denen 15% der Menschen keine österreichische StaatsbürgerInnenschaft haben. Die Agitation der FPÖ hat nicht nur nichts damit zu tun, wie sich AusländerInnen wirklich verhalten – sie braucht auch gar keine real existierenden AusländerInnen, um zu funktionieren.
und 2.) Die politische Arbeit gegen die FPÖ und ihre antidemokratischen und rassistischen Ressentiments muss neu gedacht werden. Denn ob Menschen mit AusländerInnen zu tun haben oder nicht, ändert ihr Wahlverhalten im schlechtesten Fall nicht und führt im besten Fall dazu, dass sie Vorurteile hinterfragen und sich dafür entscheiden, Parteien diesseits der Grenze zwischen demokratischem Pluralismus und rechter Hetze wählen.
Für Datenjunkies und für Misstrauische die untersuchten Gemeinden:
Raasdorf, Ebergassing, Aderklaa, Großhofen, Traiskirchen, Ramsau, Leobersdorf. Gramatneusiedl, Hainburg, Felixdorf, Berndorf, Hirtenberg, Ebenfurth, Götzendorf, Judenau und Altenmarkt (Niederösterreichische „Migrationsgemeinden“)
Dorfstetten, Altmelon, Waidhofen/Thaya Land, Grafenschlag, St.Georgen, Reinsberg, Hochneukirchen, Schollach, Dobersberg, Gastern, Zöbern, Albrechtsberg, Schrattenbach, Waidhofen/Thaya, Arbesbach, Kirchschlag (Niederösterreichische Gemeinden mit wenig AusländerInnen)
Spittal/Drau, Mallnitz, Villach, Pörtschach, Greifenburg, Klagenfurt, Arnoldstein, Sachsenburg, Mühldorf, Frantschach, Velden, Schiefling, Feistritz, Finkenstein, Paternion, Bad Kleinkirchheim (Kärntner „Migrationsgemeinden“)
Fresach, Diex, Preitenegg, Gurk, Stall, Krems, Trebesing, Sele/Zell, Irschen, Lesachtal, Feistritz, Rennweg, Kleblach, Globasnitz, Oberdrauburg (Kärnter Gemeinden mit wenig AusländerInnen)
Update, 24.4.: Einige Twitterati wollen nachrechnen und ergänzende Analysen anstellen. Dafür stell ich hier das File zur Verfügung.
Ich hab nicht vor, gegen diesen Effekt argumentieren, aber was ist mit der umgekehrten Kausalität, nämlich dass Migrant*innen tendenziell dorthin ziehen, wo es wenige Rassist*innen gibt?