Wahlkampf nur in 9 von 95 österreichischen Bezirken? Das könnte passieren, wenn die AutorInnen des laufenden Volksbegehrens „Demokratie jetzt“ tatsächlich ein neues Gesetz schreiben könnten. Oliver Zwickelsdorfer hat im heutigen „Standard“ kritisiert, dass die Regel regionale Hochburgen bevorzugen würde und in weiten Teilen Österreichs nicht wirklich ein Wahlkampf stattfinden würde. Ich hab mir genauer angeschaut, wo das wäre.
Kurzer Exkurs für Menschen, die jetzt wegen des sperrigen Themas Wahlrecht schon weg klicken wollen: Die Idee der Volksbegehrens-InitiatorInnen ist, die Hälfte der Mandate im Nationalrat nicht mehr über Parteilisten, sondern über Direktmandate im Wahlkreis wählen zu lassen. Das hieße: Ich kann theoretisch, mit oder ohne Partei, Nationalratsabgeordneter für Hernals werden, wenn ich es schaffe, 50% meiner Bezirks-MitbürgerInnen dazu zu bringen, dass sie mich wählen. Praktisch ist es überall, wo es ein solches Direktwahl-System gibt, bei Parteiendominanz geblieben. Nur, dass die Parteien weniger werden – denn für kleinere Parteien bleiben so wesentlich weniger Mandate.
3x Oberösterreich, 3x Wien, 2x Steiermark, 1x Niederösterreich. Das sind die Bezirke, in denen das Ergebnis zwischen rot-grün und schwarz-blau-orange bei der Nationalratswahl 2008 weniger als 5% Abstand hatte, von Westen nach Osten: Wels-Land, Wels, Linz-Land, Mürzzuschlag, Leoben, Wien-Umgebung, Liesing, Döbling, Hernals. Das wären in so einem System die „Battlegrounds“: Dort würden sich die Wahlkampf-Aktivitäten hin konzentrieren. Denn im grünen siebten Wiener Gemeindebezirk Neubau, im tiefroten Linz oder im tiefschwarzen Kufstein könnten die jeweiligen Mehrheitsfraktionen einen Hydranten aufstellen und würden immer noch gewinnen. Etwas großzügiger gerechnet: Es gibt insgesamt 34 Bezirke in Österreich, in denen 2008 keines der beiden politischen Lager mehr als 58% hatte. Selbst wenn (und ich halte das für fast aussichtslos) man in einem solchen Bezirk gegen recht deutliche politische Mehrheiten einen ernsthaften Wahlkampf starten würde, gäbe es in 2/3 der österreichischen Bezirke keinen Wahlkampf um das Direktmandat. Keine Wahlkämpfe vor Ort gäbe es dann in ganz Vorarlberg und in Kärnten, in Tirol und Salzburg nur in den Landeshauptstädten. Umkämpft wäre quasi das ganze Burgenland, die Obersteiermark, der Speckgürtel von Wien, das niederösterreichische Industriegebiet und der Westen der Bundeshauptstadt.
Ziel-1-Regionen. Was passiert mit Regionen, in denen man im Wahlkampf besonders investieren muss? Sie werden aufgewertet. Sie werden in der laufenden politischen Arbeit stärker berücksichtigt. Sie haben mehr Zugriff auf Förderungstöpfe, auf öffentliche Verkehrsmittel. Vielleicht baut man ihnen auch einen schönen neuen Fußballplatz. Ihre Regional-Abgeordneten haben mehr Gewicht, als die aus Regionen mit deutlichen politischen Mehrheiten. Das ist die große Krux am personalisierten Wahlrecht: Es macht aufgrund der real existierenden politischen Struktur einige wenige Regionen des Landes zu Ziel-1-Regionen, während andere durch die Finger schauen. Das ist auch gar nicht unmoralisch oder böse von den Parteien, sondern ganz normale Logik im Parteienwettbewerb. Und den brauchen wir auch.
Entmachtung von 2/3 des Landes nicht unterschreiben. Jetzt kann man natürlich finden, das sei polemisch, weil ja niemand sagt, dass die aktuellen Bezirke auch die Wahlkreise sein müssten. Die könnte man ja auch so bauen, dass sie politisch in mehr als zweieinhalb Regionen des Landes umstritten sind. Aber das schau ich mir an, wer diese Entscheidungen treffen soll: Wer steigt denn seinen Regionalkaisern drauf und nimmt ihnen durch Änderungen der Wahlkreisgrenzen sichere Mandate? Und wie baut man im äußersten Westen des Landes überhaupt einen offenen Wahlkreis? Meine Antwort auf diese Frage: Ich unterschreib‘ das laufende Volksbegehren nicht. Da steht zwar viel Richtiges drin – aber für die Personalisierung von Politik ist das Modell mit den Wahlkreismandaten völlig verkehrt. Und diese Entmachtung großer Teile des Landes steht immerhin auf Platz eins der Forderungen.
Update, 13.4.: Wenn man die Bezirksergebnisse der 2008er-Nationalratswahl einem System zu Grund legt, das die Hälfte aller Mandate ohne einen Ausgleich auf der Bundesebene in Einerwahlkreisen vergibt, kommt das heraus: Eine massive Verschiebung zu Gunsten der großen Parteien. Sie würden 75% der Mandate mit 58% der Stimmen machen, die FPÖ dagegen mit 17% der Stimmen nur 9% der Mandate. Letzteres könnte man zwar im Sinne der politischen Sympathie gut finden – im Sinne der Abbildung des tatsächlichen Wahlergebnisses im Parlament aber nicht. Die 39% von SPÖ und BZÖ hätten nach diesem Modell für eine Mandatsmehrheit im Parlament gereicht.
Update, 14.4.: Auf Twitter bin ich auf den Aspekt der Repräsentanz verschiedener Bevölkerungsgruppen je nach Wahlsystem aufmerksam gemacht worden. Hier die Frauenquoten in 17 europäischen Ländern. Blaue Balken bedeuten Verhältniswahlrecht, orange ein Mischsystem, rot bedeutet ein Mehrheitswahlrecht. Zu Frankreich, das trotz Mehrheitswahlrecht einen Frauenanteil im Mittelfeld hat, ist zu ergänzen: Seit 2011 gibt es verpflichtende gesetzliche Frauenquoten auf den Wahllisten, deren Nicht-Einhaltung finanziell massiv sanktioniert wird.
Post Skriptum für Freaks: Die Liste der Bezirke, in denen 2008 weder Mitte-Links, noch Mitte-Rechts eine Mehrheit von über 58% hatten: Innsbruck, Salzburg, Gmunden, Steyr, Linz, Linz-Land, Wels, Wels-Land, Perg, St. Pölten, Krems, Gänserndorf, Lilienfeld, Neunkirchen, Baden, Mödling, Bruck/Leitha, Wien-Umgebung, Neusiedl, Eisenstadt-Umgebung, Rust, Mattersburg, Oberwart, Güssing, Judenburg, Knittelfeld, Leoben, Graz, Mürzzuschlag, Penzing, Liesing, Hernals, Währing, Döbling, Donaustadt
Du tust ihnen inhaltlich unrecht. Sie wollen im Endeffekt das deutsche System („Wahrung der Verhältnismäßigkeit“), das ist zwar dämlich, weil so gut wie irrelevant, aber nicht so fahrlässig und US-amerikanisch, wie du es darstellst.