Die Alten kriegen ganz ordentlich ihr Fett weg, dieser Tage. Auf Twitter machen Rache-Phantasien von Zivildienern an Pflegebedürftigen die Runde. Mit schimpfen werden wir sie aber nicht kriegen. Für eine progressive Agenda, für eine Mehrheit jenseits von Schwarz-Blau-Stronach, die ich ab jetzt der Einfachheit halber Estland-Koalition nennen werde (liebe EstInnen, verzeiht), brauchen wir die Stimmen der Alten.
[Exkurs: Der Anteil der US-DemokratInnen bei Über-65-jährigen sinkt übrigens, auch unter Obama, konstant. Hatte Al Gore 2000 noch eine knappe Mehrheit, bekam John Kerry 2004 nur mehr 46% dieser Stimmen, Obama beim ersten Antreten nur mehr 45% und beim zweiten nur mehr 43%. Die DemokratInnen haben das ausgeglichen, indem ihr Anteil bei den unter 30-jährigen im gleichen Zeitraum von 47% auf 66% gestiegen ist. Das wird bei uns aber nicht das Patentrezept sein. Es gibt zu wenige Junge und unter denen momentan zu viele frustrierte FPÖ-WählerInnen.]
Was hat das jetzt mit dem Titel zu tun? Ich will die Alten verteidigen. Ich war am Sonntag bei einer Veranstaltung, die mich in meine früheste Kindheit zurückgeführt hat. Ich war damals 9, kann mich an Kerzen und Aufbruchstimmung erinnern. Meine Eltern sagen, wir waren wahrscheinlich in Dornbirn auf einer kleinen Soli-Kundgebung zum Wiener Lichtermeer. Ich hab in den letzten Tagen die jüngste Zeitgeschichte studiert (Tipp: die ORF-Berichte zu den Protesten gegen das Haider’sche Ausländervolksbegehren). Mir ist bruchstückhaft eingefallen, dass wir zu Hause auffällig dicke Briefe untersucht haben. Dass Arabella Kiesbauer nicht die eigenartige Moderatorin war, sondern die Frau, die aufgrund ihrer Hautfarbe Terror-Post geschickt bekam. Ich kann mich an die Radiomeldung erinnern, dass sich ein Mann bei einer Polizeikontrolle seine Hände in die Luft gesprengt hat und wenige Stunden später, dass es sich wahrscheinlich um den Terroristen handelt, der die Menschenrechts-Szene drei Jahre lang in Angst und Schrecken versetzt hat.
Ein rechter Messias im scheinbar unaufhaltsamen Steigflug, ein von FPÖlern durchsetzter Polizeiapparat, tödlicher Terror von rechts gegen engagierte Linke, Liberale und Minderheitenangehörige, Krieg nahe der österreichischen Grenzen: Die frühen 90er-Jahre klingen nicht nach einer gemütlichen Zeit. Gleichzeitig eine große Koalition, die – auch das muss erwähnt sein – Österreich in dieser turbulenten Zeit in die Europäische Union führt. Und, viel wichtiger: Mitten drin viele heute schon ältere, die sich trotz der latenten Bombendrohung politisch exponieren und Partei ergreifen für Flüchtlinge und Minderheiten. Das breite zivilgesellschaftliche Netzwerk, in dem ich und viele AltersgenossInnen Jahre später angefangen haben, sich zu engagieren, war nicht schon immer da. Es zu organisieren, war in prähistorisch anmutenden Prä-Internet- und Facebook-Zeiten eine ganz andere logistische Herausforderung, als heute. Sie konnten schwarz-blau nicht verhindern. Aber die Grenzen, die von Schüssels Rechts-Regierung nicht überschritten werden konnten, haben sie abgesteckt.
Ich bin am Sonntag bei der Matinee zum 20. Geburtstag von SOS Mitmensch neben einem steinalten Paar gesessen. Er hat schlecht gehört, sie fast gar nichts mehr, er nur mit dicken Hörgeräten. Er hat jeden Satz laut wiederholt, den sie nicht verstanden hat – und es war fast jeder Satz. Vielleicht haben die beiden für die Wehrpflicht gestimmt. Ich hab sie nicht gefragt. Aber sie müssen im Frühjahr 1993 irgendwie dabei gewesen sein, als die Zivilgesellschaft am Heldenplatz mit der größten Demonstration der 2. Republik auf sich aufmerksam gemacht hat. Die Grenzen, an denen „wir“ und „sie“ verläuft, haben sich an diesem Vormittag im Volkstheater anders angefühlt.
Dafür, dass ihr 1993 ff. der Kampf gegen Rechts nicht den schwächelnden Parteien überlassen habt, wiewohl sie zur Unterstützung benötigt wurden, für diesen Aufruf und dafür, dass meine Generation wohl auch von euch das sich wehren und mutig sein gelernt hat – dafür muss man auch einmal danke sagen.