Schneeballeffekt, der zur Lawine wird: Das wäre wohl die österreichische Metapher für das,, was die AutorInnen der am Sonntag erschienenen Studie „Internet-Tsunamis“ nennen. Das aus der Online-Community kommende Phänomen ist laut dem Verein „xaidialoge“ und der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder eine „themenbezogene Artikuation bestimmter politischer Meinungen von einer großen Anzahl an Menschen in einem sehr kurzen Zeitraum.“ Wie die Macht in öffentlichen Debatten durch das Internet neu verteilt worden ist, hab ich am datenwerk-Blog im ersten Beitrag zur Studie beschrieben.
Sind die Wellen, die ein Thema online schlägt, hoch genug, springen sie in die Offline-Sphäre, in die „alten“ Medien. Die Entstehung dieser „Tsunamis“ ist nicht planbar, sehr wohl benennt die Studie aber Rahmenbedingungen, die diese Form des Agenda Settings begünstigen. Bilder, Emotionen, Rätsel, Wettbewerbe (Stichwort Gamification) und die Möglichkeit, persönliche Erfahrungen in einem möglicherweise tabuisierten Bereich zu teilen, sind Stimuli, die im Gegensatz zu textbasiertem Content ein Thema beschleunigen und einen Schneeballeffekt begünstigen.
Wie ein Internet-„Tsunami“ verläuft. Die Studie beschreibt vier ungleiche Beispiele für „Internet-Tsunamis“ der letzten Jahre und entdeckt dennoch eine gemeinsame Struktur. Was verbindet die Plagiatsaffäre um die Dissertation des nunmehr ehemaligen deutschen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg, die „Occupy Wallstreet“-Bewegung im New Yorker Zuccotti-Park, den Arabischen Frühling in Ägypten und die Proteste gegen das Handelsabkommen ACTA? datenwerk fasst die Struktur der Affäre um Guttenberg zusammen. Die ausführlichen Analysen der drei anderen Fallbeispiele anhand des selben Schemas sind hier nachzulesen, wobei sie um das wesentliche Element „Repressiver Moment“ ergänzt sind.
Das Symbol des GuttenPlagg – Wiki
1. Klimafaktoren: Was offline nicht existiert, kann online nicht erfolgreich sein. Guttenberg stand bereits wegen der Affäre um die Abberufung eines deutschen Schiffskommandanten und wegen eines deutschen Luftangriffs auf afghanische ZivilistInnen in der Kritik. Maßgebliche Teile der Öffentlichkeit wollten Guttenberg weg haben. Das ist auch ein gemeinsamer Nenner der Klimafaktoren: Proteste gegen bestimmte Personen oder Umstände haben wesentlich mehr Mobilisierungskraft, als komplizierte konstruktive Debatten.
2. Input-Funktion: Zwei Verfassungsrechtler analysierten für eine Fachzeitschrift Guttenbergs Dissertation und stießen dabei auf Stellen, die ein Plagiat vermuten ließen. Die „Süddeutsche Zeitung“ berichtete darüber.
3. Tsunami-Funktion: 24 Stunden später war das „GuttenPlagg Wiki“ online und verbreitet sich in Windeseile im Netz. JuristInnen und andere WissenschafterInnen werden aufgefordert, sich kollektiv an der Suche nach weiteren abgeschriebenen Stellen zu beteiligen und färben drei Viertel der Dissertation mit den dafür gewählten Farben Rot und Schwarz ein. Wichtige Elemente dieser Phase sind die Gamification bei den etlichen dezentral organisierten Menschen, die in der Arbeit nach Plagiaten suchen, und das bildgebende Symbol, der Guttenberg-Barcode. Nicht zu unterschätzen der emotionale Moment: Viele AkademikerInnen, die durch ihre Recherchen in Guttenbergs Dissertation den weiteren Verlauf mit geprägt haben, waren gekränkt, dass sich ein Spitzenpolitiker mit einer großteils plagiierten Dissertation durchschlagen konnte.
4. Output: Vier Wochen später tritt Guttenberg zurück. Die Studie bewertet das als Ergebnis einer in Deutschland noch nie dagewesenen Verschränkung von Crowdsourcing im Internet und klassischer Medienberichterstattung in Print, Fernsehen und Hörfunk.
5. Outcome: Weitere Online-Plagiatsdokus beschäftigen sich seitdem mit der Dissertation von Edmund Stoibers Tochter Veronika Saß und mit jener von Bildungsministerin Annette Schavan. Der Umgang von PolitikerInnen mit derartigen Vorwürfen hat sich seit dem für sie abschreckenden Beispiel der Affäre Guttenberg merklich verändert.
Wenn die Welle nicht mehr bricht. Ein „Internet-Tsunami“ kann also einen Minister aus dem Amt schwemmen. Bleibt die Frage, wer einen „Tsunami“ macht: In erster Linie die dezentrale, nicht konzertiert agierende Community. Natürlich gibt es organisierte Strukturen in den Netzgemeinden, die sind aber meist auch als solche erkennbar. Es gewinnen Themen, die viele Menschen betreffen und die viele Menschen als teilens-, weiterleitens- oder kommentierenswert finden. Gelingt das, sprechen Kommunikations-Agenturen, die Krisen-PR anbieten von „Social Attacks“. Ein entscheidender Moment ist der Sprung aus der digitalen Welt in jene Öffentlichkeit, in der sich nach wie vor die Mehrheit der Menschen herumtreibt: in die sogenannten „alten“ Medien. Die können aber an großen Wellen im Netz nicht mehr vorbei – erinnert sei an dieser Stelle an die über 20 Millionen Facebook-UserInnen in Deutschland. Wichtig für die Einordnung der Protestwellen aus dem Internet: Wir sehen nur die erfolgreichen „Tsunamis“ – die etlichen Versuche organisierter Gruppen, große Wellen in Bewegung zu setzen, bekommen die meisten UserInnen gar nicht mit.
„Früher hat man einen Button an die Jacke gepinnt, heute drückt man einen Button im sozialen Netzwerk“, sagt Jan Schmidt vom Hans-Bredow-Institut für Medienforschung in Hamburg in der Studie. Und mit diesem Button im sozialen Netzwerk ist man mitunter ein kleiner Teil einer kaum aufhaltbaren Welle. Die Studie verschweigt aber nicht die Gefahren der „Internet-Tsunamis“: Sachliche Diskussionen blieben in emotionalisierten Kampagnen (und das ist ja Voraussetzung für deren Erfolg) oft außen vor. Teil einer Bewegung zu sein heißt eben oft auch, den Kopf ausschalten und mit dem Strom schwimmen. Der „digital gap“ führt dazu, dass im Internet mobilisierbare Menschen kein realistisches Abbild der Gesamtbevölkerung sind, sondern vor allem im Leitmedium Twitter tendenziell höher gebildet, besser verdienend und postmaterialistischer eingestellt.
Dieses Twitter macht alles anders. Umgekehrt können MacherInnen klassischer Medien auch etwas aus „Internet-Tsunamis“ lernen, wie die österreichische Journalistin Sibylle Hamann in ihrem lesenswerten Kommentar zum jüngsten Sturm #aufschrei analysiert: „Doch erst Twitter, dieses neue, rätselhafte Medium, hat sie mit der Nase drauf gestoßen: Womöglich denken die jungen Frauen dort draußen ganz anders als wir hier drinnen meinen? Wie ist es möglich, dass bei ihnen ein Thema brennt, dessen Relevanz wir seit Jahren hartnäckig bestreiten? Die Erkenntnis muss ein ziemlicher Schreck sein: Die werbereleventen Zielgruppen sind dem Feminismus inhaltlich wahrscheinlich viel näher als vermutet. Aber weil sie in den Medienhierarchien zu wenig zu sagen haben, kriegt das halt keiner mit.“