
Es gibt eine Reihe offener Fragen, auf die UserInnen auf Twitter antworten wollen. In 40 Stunden öffnen die Wahllokale: Das Stresslevel ist hoch, oder wie es im empfehlenswerten NPR Politics Podcast (https://www.npr.org/podcasts/510310/npr-politics-podcast?t=1604250277669) Asma Khalid formuliert: Die Chancen für Biden stehen super. Aber wenn du zu 10% eine Autobombe unter deinem Motor hast, bist du auch nervös, wenn du den Zündschlüssel umdrehst. Ich frag mich, ob die NPR-Podcasterin Anleihen bei John Grishams „Pelican Brief“ genommen hat: Da werden zwei Supreme Court Justices ermordet und einer der Aufdecker des Plots wird mit einer Autobombe getötet, vor den Augen seiner Partnerin Julia Roberts. Der Film ist übrigens sehr spannend und eine gute Ablenkung für Dienstag am frühen Abend und eine gute Brücke zur Wahlnacht.
Ermordet ist Ruth Bader Ginsburg, die liberale Ikone am Höchstgericht, im September zwar nicht geworden. Aber ihr Tod hat einen Nominierungskampf gestartet, der in einer Blitznominierung und einem 6:3 für von republikanischen Präsidenten nomierten RichterInnen am US-Höchstgericht geführt hat. Der Supreme Court soll eigentlich durch die lebenslange Bestellung seiner Mitglieder eine von der Politik unabhängige Bastion sein und eigentlich nur hin und wieder von anderen Behörden als letzte Instanz konsultiert werden. In Artikel 3 der Verfassung steht: „The judicial Power of the United States, shall be vested in one supreme Court, and in such inferior Courts as the Congress may from time to time ordain and establish.“
Ich will hier nichts romantisieren: Präsidenten haben sich immer RichterInnen mit ähnlichen Weltbildern ausgesucht. Aber noch vor 30 Jahren waren hohe Voten mit Zustimmung großer Teile beider Parteien für HöchstrichterInnen durch den Senat üblich. William Rehnquist hat 1986 als erster Richter jemand im 100köpfigen Senat über 30 Gegenstimmen bekommen, die Höchstrichter Scalia und Kennedy waren unter Präsident Reagan ohne Gegenstimme (!) nominiert worden. 1991 gibt es mit 52:48 die erste ganz knappe Abstimmung für einen Richter – der Konservative Clarence Thomas sitzt heute noch am Höchstgericht. Ab da bekommt kein Konservativer mehr über 58 Stimmen im Senat. Barack Obamas beide Nomnierten, Sonia Sotomayor und Elena Kagan, bekommen je ca. zwei Drittel der Stimmen. Für Trumps drei RichterInnen stimmt fast überhaupt kein/e DemokratIn mehr. Das Höchstgericht bildet also eine extrem polarisierte politische Landschaft ab.
Längst eskaliert diese polarisierte Landschaft jedes größere Gesetz bis zum Supreme Court hinauf und so sind viele prägende politische Entscheidungen der letzten drei Jahrzehnte nicht von gesetzgebenden Organen getroffen, sondern durch Einzelfallentscheidungen mit Präzedenzwirkung des Höchstgerichts – und viele bahnbrechende politische Entscheidungen gelten erst dann als halbwegs gesichert, wenn sie die wie das Amen im Gebet folgenden Anfechtungen des Höchstgerichts überstanden haben. Seitdem dem republikanischen Präsidenten Ronald Reagan gleich zwei Richter passiert sind, die sich dann als relativ liberal herausgestellt haben und zur Unzufriedenheit der republikanischen Basis agiert haben, führt eine eigens dafür gegründete Organisation Listen über Urteile von RichterInnen auf niedrigeren Ebene und ihre politische Verlässlichkeit und empfiehlt den Präsidenten, so sie zum nominieren kommen, wer das sein soll. Trumps drei HöchstrichterInnen – Gorsuch, Kavanaugh und Barrett – kommen aus den obersten Zeilen dieser Listen.
Kann das Höchstgericht jetzt in die Wahl am 3. November einschreiten? Ja, es gibt ein Beispiel aus den Lebzeiten der meisten heute an US-Wahlen interessierten Menschen. Im Jahr 2000 hängt die Präsidentschaftswahl zwischen dem Republikaner George Bush jun und dem demokratischen Kandidaten, Vizepräsident Al Gore, an ein paar hundert Stimmen in Florida. Die Neuauszählung des extrem knappen Wahlergebnisses in Florida stoppt der Supreme Court in einer 7:2-Entscheidung und besiegelt damit den Sieg von George Bush jun in Florida und macht ihn damit zum US-Präsidenten. Wer das genau nachhören will: der NYT-Podcast „The Daily“ hat dazu eine hörenswerte Folge (https://open.spotify.com/episode/4nxLGdjOtzVySXsI75g5K5).
Das Muster, das wir in Bezug auf die Präsidentschaftswahlen 2020 mit dem Höchstgericht beobachten, ist ein Hin und Her. Bisher ist der Supreme Court hauptsächlich angerufen worden, um die Urteile oder Verordnungen von Behörden der Bundesstaaten anzufechten, was die Nachzählfristen betrifft: also wie lange darf eine Briefwahlkarte nach der Wahl ankommen und immer noch gezählt werden. Wahlkommissionen in Wisconsin, Minnesota, Pennsylvania und in North Carolina haben da mit unterschiedlichen Begründungen Fristen über den gesetzlich vorgesehenen Rahmen hinaus verlängert. Und zwar mit Verweis auf die außergewöhnlichen Bedingungen einer Pandemie, bei der ein Vielfaches der bisher bekannten Briefwahlstimmen per Post transportiert werden muss und deshalb nachweislich Verzögerungen eintreten, die das Wahlrecht der BürgerInnen einschränken. Bei diesen vier wichtigen Entscheidungen hat der Supreme Court den republikanischen KlägerInnen, die jeweils kürzere Fristen wollten, zwei Mal Recht gegeben und zwei Mal den (jeweils demokratisch dominierten) lokalen Behörden und Wahlkommissionen. Ohne den Inhalt bewerten zu wollen: eine außerordentliche Parteilichkeit kann man dem Supreme Court hier noch nicht vorwerfen. Trotzdem ist mit weiteren Klagen in diesen Staaten zu rechnen, wenn die Rennen so knapp sind, dass sich das für die RepublikanerInnen auszahlt.
Also: in Staaten mit demokratischen Organen, die für die Durchführung der Wahl zuständig sind, bleibt den RepublikanerInnen legal nur der Weg zum Supreme Court. Immerhin vier der Swing States (und damit mehr als Biden für den Einzug ins Weiße Haus gewinnen muss) haben demokratische GouverneurInnen, die letztverantwortlich für die Durchführung der Wahlen in ihrem Bundesstaat sind: Das sind Wisconsin, Michigan, Pennsylvania und North Carolina. In einem fünften Swing State ist die Innenministerin Demokratin und sitzt zumindest am Tisch, wenn Entscheidungen des Bundesstaats zur Wahl getroffen werden – das ist Arizona. In den anderen Swing States brauchen die RepublikanerInnen für die Dirty Tricks keinen Supreme Court. In Florida, Texas, Georgia und Ohio wird jetzt schon von den republikanischen lokalen Behörden getrickst, was geht: Da ein paar Wahllokale nicht aufsperren, Fristen für zu spät kommende Wahlkarten gibt’s sowieso nicht, hier die Anzahl der Briefwahlpostkästen reduzieren, dort ein paar hunderttausend früher straffälligen BürgerInnen, die per Volksabstimmung das Wahlrecht zurückbekommen haben, das Wahlrecht auf legislativem Weg wieder nehmen, solange sie nicht alle Gerichts- und Gefängnisgebühren gezahlt haben.
Alle republikanischen Versuche, die Wahlbeteiligung besonders unter demokratischen WählerInnen mit restriktivem Zugang zum Wahlrecht und mit einer Ausdünnung der Wahl-Infrastruktur zu drücken, sind natürlich ebenfalls Gegenstand möglicher Klagen beim Supreme Court von demokratischer Seite. Die Erfolgsaussichten dafür sind enden wollend. Es ist in diesen Staaten aber ein Kampf auf einer schiefen Ebene, die die republikanischen Lokalregierungen folgen. Denn jetzt gewinnen sie in Bundesstaaten wie Texas, Georgia und Florida mit allen Tricks mit Ach und Krach. Wenn dort ein Mal DemokratInnen an der Macht sind und das Wahlrecht ähnlich bürgerInnennahe und ohne Wahlbeteiligungsunterdrückung handhaben, gibt es gleich einen Sprung um ein paar Prozent in der Wahlbeteiligung und in der Regel beim demokratischen Stimmanteil. Wir haben das in Virginia und in Colorado gesehen und es wird in den nächsten 10-15 Jahren auch in Texas und Georgia so sein.
Damit sind die legalen Wege für Trump und seine RepublikanerInnen beschrieben: Alles, was der Supreme Court erlaubt oder nicht rechtzeitig verbietet, ist möglich. Eines muss man an dieser Stelle aber schon dazusagen: nichts davon kann ein paar 100.000 Stimmen verschwinden lassen, wie es laut momentanen Umfragen jedenfalls in Wisconsin, in Michigan und in Pennsylvania für einen Trump-Sieg notwendig wäre. Und auch die letzten Umfragen aus North Carolina sehen einen wachsenden Vorsprung von Joe Biden, der übersetzt in Stimmen schon eher in den sechsstelligen Stimmbereich geht. Es wird hier juristische Schlachten geben, viele davon sind komplizierter als wir sie uns momentan vorstellen können. Aber Florida 2000, der Präzedenzfall einer vom Gericht entschiedenen Wahl, war ein Kampf um ein paar hundert Stimmen. Es kann auch am Dienstag und in den Folgetagen so knapp werden. Aber die Chancen dafür sind enden wollend.
Eine ganz andere Geschichte, die ich in aller Kürze abhandeln kann, sind technische Manipulationen an den Wahlautomaten und gehackte Computer der Innenminsterien – wer House of Cards oder The Good Wife geschaut hat, hat eine sehr genaue Vorstellung davon, wie das gehen kann. Ich muss das leider offen lassen: Es gibt aus den Wahljahren 2016 und 2018 keine Dokumentation erfolgreicher solcher Versuche und 2020 noch keine veröffentlichten großen HackerInnen-Angriffe staatlicher AkteurInnen. Aber es ist 2020. Kann man da irgendwas ausschließen?