Auch wenn es gruselig ist, muss es zumindest immer ein bißchen historisch sein, was man miterlebt. Dabei ist der gestrige erste Wahlgang, was den Front National betrifft, noch nicht besonders historisch. Was in Frankreich passiert, ist auch international kein besonderer Bruch, sondern die Wahlen schreiben zwei internationale Trends fort: Das stete, aber langsame Wachstum der Rechtsradikalen. Und die Neoliberalisierung der Sozialdemokratie, die sich in immer mehr Ländern zu Wahlvereinen für gesellschaftspolitisch offene aber verteilungs- und sozialpolitisch rechte fesche Männer entwickelt.
Was bleibt von gestern und was heißt das für die Zukunft?
1. Marine Le Pen hat mit 21,4 Prozent ein bißchen mehr Stimmen gemacht, als ihr Vater 2002 (16,9) und als sie selber 2012 (17,9). Das ist angesichts der Überakzentuierung ihrer riesigen Unterschiede zu ihrem Vater, den sie aus der Partei ausgeschlossen hat, najo. Ein bißchen mehr Stimmen halt.
2. Emmanuel Macron ist der Kandidat des sozialliberalen Establishments, das sich in einem die Präsidentschaft Francois Hollandes zerstörenden Flügelkampf in der zentralen Personalfrage nicht durchgesetzt und deswegen dann abgesetzt hat. Zur Erinnerung: schon 2008 hat dieser PS-Richtungskampf zu einer Kampfabstimmung zwischen der Parteilinken Martine Aubry und der Reformistin Ségolene Royal um den Parteivorsitz geführt, den Erstere bei 135.000 abgegebenen Stimmen mit 42 Stimmen Vorsprung gewann. Zehn Jahre später haben sich diesen Jänner nach der Wahl des Parteilinken Benoit Hamon zum Spitzenkandidaten gegen den Reformisten Manuel Valls der Verlierer und die meisten anderen Parteigranden auf die Seite des unabhängigen Kandidaten Macron geschlagen. Fast 2 Mio. dem PS nahe stehende Menschen haben diesen Jänner mit fast 60% Hamon zum Präsidentschaftskandidaten gewählt. Dieses Ergebnis so zu übergehen, wie es der Verlierer Valls und Co getan haben, bereitet dem FN durch die Zerstörung des Parti Socialiste den Boden.
3. Francois Fillon hatte wenig Platz zur Profilierung: Gesellschaftspolitisch schwer von Le Pen unterscheidbar und wirtschaftspolitisch schwer von Macron, sind die fast 20% trotz seiner Skandale eigentlich ein erstaunlich gutes Resultat. Zur Erinnerung: Nicolas Sarkozy hatte 2012 als amtierender Präsident gerade einmal 26% im ersten Wahlgang. Die alten Konservativen, die heute „Les Republicains“ heißen, haben in ihren Vorwahlen, wie der PS, nicht zur Freude des Establishments entschieden. Aber ihre StammwählerInnen sind ihrem Kandidaten trotz aller guter Argumente gegen Fillon, relativ treu geblieben. Das gibt den Republicains Hoffnung für die Parlamentswahlen im Juni.
4. Jean Luc Mélenchon ist ein Produkt seiner großen rhetorischen Qualitäten und der Spaltung des PS. Als er in den Umfragen Fahrt aufnahm war klar, dass viele Hamon-UnterstützerInnen für die Macron aus wirtschafts- und verteilungspolitischen Gründen keine Option war, zu Mélenchon wechseln würden. Das Ausmaß seines Erfolgs ist beachtlich. Alle quantitativen Analysen sind aber eine Absage an die Hoffnung, er könnte Le Pen stoppen. Der Austausch findet in Frankreich im Wesentlichen innerhalb der politischen Lager rechts-links und nicht über diese Grenzen statt, das hat sich auch gestern wieder gezeigt. Gerade 2% der JLM-WählerInnen kommen vom FN und gerade 2% der FN-WählerInnen von gestern haben 2012 JLM gewählt.
5. Stichwahl und Parlamentswahl: Die Stichwahl wird ein Bruch. Zwar scheint ein Sieg Le Pens ausgeschlossen, hat Macron doch 20% Vorsprung in allen Umfragen. Aber auch die ca. 40%, die Le Pen zugetraut werden, wären mehr als doppelt so viele Stimmen wie 2002 für ihren Vater in der Stichwahl gegen Jacques Chirac. Der Front National nimmt inhaltlich enormen Einfluss auf die Politik aller anderen Fraktionen und gewinnt Wahlen, aber er ist dank des rigorosen Wahlsystems in der Umsetzung seiner Politik nur auf kommunaler Ebene einflussreich. Im Parlament sitzen momentan 2 FN-Politiker bei 577 Abgeordneten, das liegt daran, dass die Abgeordneten in ihrem Wahlkreis in einem zweistufigen Wahlsystem fast immer eine absolute Mehrheit brauchen und die bekommen FN-PolitikerInnen (noch) nicht.
6. Realistisch ist also, dass der faktische Einfluss des FN nach der Stichwahl und der Parlamentswahl nicht steigen wird. Aber die Selbstzerstörung der SozialistInnen macht Platz für Bewegungen links und rechts, den die Rechte momentan leider besser zu nutzen weiß. Andererseits: hätten noch 2 Prozent mehr Hamon-SympathisantInnen ihr Kreuz bei Melenchon gemacht, hätten wir jetzt ein Finale zwischen Macron und Melenchon und eine Diskussion darüber, ob Frankreich jetzt linksradikal wird. Insofern gilt auch hier, die Relationen im Auge zu behalten.
Und post scirptum die sichtbare Kontinuität in einem Bild: Rechts der erste Wahlgang 2012 mit Hollande in pink, Sarkozy in blau und Le Pen in schwarz. Und rechts der erste Wahlgang von gestern mit Macron in orange, Melenchon in rot und Le Pen in schwarz. Viel Konservatives ist rechtsextrem geworden und viel Hollande-sozialistisches ist Macron-liberal geworden. Die Verschiebung findet innerhalb der Lager nach rechts statt.