
(C) Jan Hetfleisch. Mehr Bilder von Jan gibt’s hier: http://on.fb.me/19Hgmnu
Ich habe im Laufe des Wochenendes drei türkische FreundInnen in Istanbul gebeten, mir ein paar Einschätzungen zu den großen Linien der Türkei-Berichterstattung zu geben, die ich in Österreich in den letzten Tagen beobachtet habe.
1) Erdogan wackelt: Das hätten die meisten DemonstrantInnen in Istanbul gerne und das hätten die KonsumentInnen mitteleuropäischer Medien gerne. Aber weder die Militärs in der Türkei, noch die wirtschaftliche Elite hat ein Interesse an einem Wechsel an der Spitze der Regierung, sagen meine Kontakte. In Istanbul hat die AKP die Mehrheit in allen 39 Stadtteilen, außer in einem: Nur das studentisch geprägte Kadiköy wird von der sozialdemokratisch-nationalistischen CHP regiert. Das Vorgehen der Polizei und der Staatsgewalt gegen die DemonstrantInnen von Gezi und Istiklal und am Hafen von Besiktas schade dem Ansehen des Ministerpräsidenten. Von einem Machtwechsel ist die Türkei aber weit entfernt.
2) Die EU muss jetzt eingreifen: Das ist, sagen alle drei übereinstimmend, völlig irrelevant. Erdogans AKP hat von Anfang ihrer politischen Dominanz auch jene der türkischen Wirtschaft beschworen. Tatsächlich ist das Wirtschaftswachstum beeindruckend. Erdogans Partei ist sich der wichtigen Funktion der Türkei als NATO-Brückenkopf und als einzig islamisch dominiertes demokratisch organisiertes Land bewusst. Wenn uns die nicht wollen, dann können sie uns gern haben, sei das Motto der Mehrheit in der Türkei. Sie sehen auch kein ökonomisches oder politisches Druckmittel, dass die EU jetzt gegen Erdogan in der Hand habe.
3) Erdogan hätte doch einfach nachgeben können: Hätte er nicht, sagen meine FreundInnen in Istanbul. Ein Signal der Schwäche – und das wäre ein Einknicken nach den ersten Protesten gewesen – hätte Begehrlichkeiten bei vielen politischen Gruppen geweckt. Denen zu vermitteln, dass sie mit passivem Widerstand politische Erfolge landen können, komme einer Aufforderung gleich. Das hätten hohe AKP-Funktionäre auch wortwörtlich so im Fernsehen gesagt.
Meine FreundInnen rechnen in Folge der Radikalität, mit der die Staatsgewalt in den letzten Tagen vorgegangen sei mit einem neuen Auseinanderdriften einer Gesellschaft, die dabei gewesen sei, sich näher zu kommen. Die Orientierung nach Westen sei auch in den Erdogan-Jahren trotz AKP-Mehrheit deutlich gewesen – man könne das an der Frequenz großer Popkonzerte ebenso messen wie daran, dass die Flaniermeile Istiklal und ihre Nebenstraßen in den letzten 15 Jahren zu einer einzigen Partymeile geworden seien, auf der Tag und Nacht die Hölle los ist.
Es sei ihnen deshalb auch wichtig, meinten zwei meiner drei FreundInnen, dass die Erdogan-Jahre, von denen sie trotz allem hoffen, dass sie bald zu Ende gehen, nicht einseitig dargestellt werden: Es habe sehr viel Modernisierung in der Infrastruktur gegeben, einer erwähnte den relativen Frieden mit den KurdInnen. Wer das Land wirklich verstehen wolle, müsse in die Türkei (und nicht nur nach Istanbul) kommen. Zum mitprotestieren, wenn jemand so schnell Zeit habe. Oder eben im Sommer auf Urlaub.