a place to be

„NY is not a place to stay or a place to come from, it’s a place to be“, sagt Annie im Macri Point, einer billigen In-Bar im Stadtteil Williamsburg. „Nobody comes from here – the few New Yorkers whose families have been living here for generations are either very very poor or very very rich – you won’t meet them in a bar.“

Annie sagt auch „I’m Irish“, obwohl sie noch nie in Irland gewesen ist und in absehbarer Zeit auch nicht dorthin reisen wird können – 30.000 Dollar Schulden hat sie nach zwei Studienjahren an einem angesagten Mode-College. Aber Annies Mutter ist aus Irland in die USA gezogen, hat einen Deutschen geheiratet, sich scheiden lassen, ist in einen anderen Bundesstaat gezogen. Gelebt hat Annie in Wisconsin, in New Mexico, in North Carolina und jetzt in NYC, also in allen Ecken der Staaten. Annie ist mit Yulia da, deren Mutter Ukrainierin ist und einen Amerikaner geheiratet hat, nachdem sie schwanger wurde und ihrer ungeborenen Tochter mehr Chancen als in der UdSSR der späten 80er-Jahre geben wollte. Sie hat ihren Mann im Internet kennengelernt und ist in die USA gezogen.

‚Joe’s Shanghai‘ ist ein gut geratetes Chinarestaurant in Chinatown. Dort sitzen wir an einem großen Tisch. Die anderen fünf, mit denen wir uns – das ist hier offenbar so – innerhalb kürzester Zeit unterhalten: Eine aus Marokko stammende Mittdreißigerin und ein Pärchen mit Tochter und deren Freund. Das Pärchen stellt sich als Chinesin und als deutschstämmiger Jude heraus, seine Mutter konnte 1936 in die Staaten flüchten. Ihre Tochter hat weniger asiatische Gesichtszüge als ihre Mutter, dürfte also einen nicht-asiatischen Vater haben – ob es der deutschstämmige Jude ist, finden wir nicht heraus. Der Freund der Tochter, der sich mit Stäbchen-Essen redlich abmüht, hat lateinamerikanische Wurzeln, aber eine sehr helle Hautfarbe. Wir schließen, dass auch er Elternteile aus verschiedenen Kulturkreisen hat. Sollte das junge Pärchen einmal Kinder haben, werden ihre Großeltern aus vier verschiedenen Kulturkreisen kommen – aber alle haben in New York einen Platz zum Bleiben gefunden.

Und dann ist da noch die in den USA geborene, indischstämmige Mitbewohnerin von unserem Gastgeber. Ihr Papa IT-Ingenieur, ihre Mutter ‚technically educated‘, von Delhi nach L.A. in den 80er-Jahren. Sie stellt uns am ersten Abend einen afroamerikanischen Freund vor, der halb im Scherz über ’spanish niggers‘ lästert und Barack Obama einen Heuchler schimpft (aber davon mehr beim nächsten Mal). Malcoms Vater lebt in North Carolina, er selbst ist wegen der Musik in die Hauptstadt gekommen.

Wir haben in knapp 80 Stunden in NY die ganze jüngere Einwanderungsgeschichte dieser Stadt und dieses Landes getroffen. Sie haben aus den unterschiedlichsten Gründen ihrer Heimat den Rücken gekehrt, sind Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge, die Visa-Ehen arrangiert und Identitäten getauscht haben. New York City ist für sie alle der ‚place to be‘ geworden.

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