Jetzt ist er also wieder nicht zurückgetreten, der Ägypto-Autokrat. Eine gute Gelegenheit, denen ins Gewissen zu reden, die glauben, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben. „“Es dürfte uns gut tun, uns manchmal daran zu erinnern, dass wir zwar in dem Wenigen, das wir wissen, sehr verschieden sein mögen, dass wir aber in unserer grenzenlosen Unwissenheit alle gleich sind“, heißt es in Karl Poppers „Vermuten und Widerlegen“. Kaum je trifft dieses Zitat so präzise zu, wie auf eine Autokratie, die an der Kippe steht und in der es seit 30 Jahren keine freie Wahlen mehr gegeben hat. Und noch mehr trifft es auf jene zu, die auf einmal zu AnalytikerInnen werden, Wahrheiten gepachtet haben und es sich im Namen der Demokratie herausnehmen, Andersdenkende zu diskreditieren und ihnen pauschal mindere, menschenverachtende Motive zu unterstellen.
So wie Robert Misik: Österreichs bekanntester Video-Blogger gefällt sich jüngst als ägyptischer Innenpolitik-Experte. Das ist zwar ungefähr so aussichtsreich, wie das Grassersche Stiftungs- oder das Mateschitz’sche Firmengeflecht durchschauen zu wollen. Aber Misik hält’s mit dem guten alten Leitsatz ‚trial and error‘. Und in diesem Fall: Error. Elfeinhalb Minuten lang predigt der Video-Blogger in seinem neuesten Beitrag eine Wahrheit nach der anderen in sein Mikro. Seine ganz persönlichen Wahrheiten, versteht sich. „Es scheint so, als wäre die Lage unübersichtlich, aber vielleicht ist sie das ja gar nicht. Vielleicht ist ja alles ganz einfach“, heißt es da etwa. Genau: Es ist alles ganz einfach. Das beweisen die mittlerweile drei Wochen hin und her und her und hin um den Tahrir-Platz. „Es gibt kaum einen Zweifel mehr, es wird auch in Ägypten einen Prozess der demokratischen Entfaltung geben“, heißt es bei Misik weiter. Doch, es gibt Zweifel: In den Vereinigten Staaten, in der EU, in Israel, bei zahlreichen prominenten echten ExpertInnen abseits des Informationsmonopolisten Al Jazeera. Aber wer sind diese demokratischen Regimes schon, wenn die Wahrheit doch so einfach ist.
Über die Angst im Westen könne er sich aufregen, setzt der Video-Blogger zur Attacke auf die Ungläubigen an, die nicht 100%ig auf seine Wahrheit und auf jene von Al Jazeera vertrauen. „Viele Halbinformierte murmeln nur das Wort Moslembrüder und schon helfen sie insgeheim zu Autokraten wie Mubarak, das hat auch mit Desinteresse zu tun“. In dieser „ewigen Moslem-Panik, da steckt mehr als eine Prise Rassismus drin, so wie der Herr Sarazzin sagt, dass es bei den Moslems in den Genen nicht passt, so ist diese Haltung getragen von der Überzeugung, dass zu den Moslems die Demokratie nicht passt. Jetzt, wo die Menschen ihre Leben riskieren, halten die Neokonservativen ihre Zeigefinger empor. Schlimmere und moralisch verkommenere Heuchelei ist eigentlich nicht vorstellbar.“ Der hat gesessen. Jetzt ist das dichotome Weltbild komplett.
Ich hab natürlich ein Mubarak-Poster über meinem Bett hängen, hab auf meinem Antira-Shirt das Anti durchgestrichen, Thilo Sarazzins Buch hab ich zur Steigerung der Verkaufszahlen gleich zehn Mal bestellt und ich bin der größte vorstellbare moralisch verkommene Heuchler. Bei der Gelegenheit stell ich gleich noch ein paar andere moralisch verkommene Heuchler vor. Karim El-Gawhary etwa, einen der wenigen in diesem Land, der sich mit Ägypten wirklich auskennt: „Niemand kann sagen, wie viel Unterstützung die Islamisten wirklich haben. Auch bei den Wahlen wird man das kaum erfahren“, schreibt der Korrespondent für eh alles im arabischen Raum zwei Tage vor den November-Wahlen in der deutschen „taz“. Oder Wikipedia, das listet, dass die Muslimbrüder eine Million aktive Mitglieder haben und 8 der 18 mächtigsten Unternehmerfamilien im Land am Nil stellen. Letzten Samstag schreibt der deutsche „Tagesspiegel“, es gebe eine interne Losung des Muslimbrüder-Generalsekretariats, während der Phase des Machtübergangs nicht offiziell über die Errichtung eines islamischen Staates am Nil zu reden, um die Menschen im Inland und die Regierungen im Ausland nicht zu verunsichern. Oder die Berliner „Welt“ von heute: „Im Islam ist Pluralismus nicht unbekannt. Dennoch ist es unrealistisch, in einem islamischen Land die Etablierung einer Demokratie westlichen Zuschnitts zu erwarten.“ Die Süddeutsche vom 2. Februar – die Muslimbrüder hätten „das Land von unten islamisiert.“ Alles verkommene Heuchler!
Es gibt solche und solche Stimmen: Madeleine Albright, die große alte Frau der US-Außenpolitik, warnt vor den Warnungen vor einem ‚chaos scenario‘. Eine Machtübernahme der Muslimbrüder sei nicht zu befürchten, es gebe andere wichtige Gruppen zwischen den radikalen Islamisten und Mubarak, sagt sie der Washington Post vom Montag. Oder der ehemalige deutsche Grünen-Chef Trittin, der am selben Tag in der „Süddeutschen“ die Bundeskanzlerin heftig kritisiert ob ihres Schlingerkurses gegenüber Mubarak und der fordert, die Deutschen mögen mit einer Blockade der EU-Finanzhilfe für Ägypten drohen, wenn Mubarak nicht gehe.
Ich habe im Gegensatz zu Robert Misik noch bei niemandem gelesen, dass es auf jeden Fall zu einer Machtübernahme der radikalen Islamisten kommen werde. Nicht einmal das offizielle Israel, dessen Interessen der europäischen Linken wieder einmal völlig schnurz sind oder diskreditiert werden, redet dieser Konstellation das Wort. Es warnt nur, wie es so viele anderen tun. Und jetzt mal ganz im Ernst: Dieser Meinungspluralismus kann ja auch dem glühendsten digitalen Verehrer der Demokratie in Ägypten, der Mubarak schon am Laternenpfahl hängen sieht, eigentlich nur Recht sein.