In vielen Telefonaten und Gesprächen mit FreundInnen und Verwandten kommt in den letzten Tagen immer wieder die Hoffnung zur Sprache, jetzt komme eine Rückbesinnung auf das, was meine GesprächspartnerInnen „das Wesentliche“ nennen. Man sehe ja jetzt, dass es auch ohne Fliegen gehe und dass regionale Wirtschaftskreisläufe verlässlicher wären als internationaler Handel und vom Bauern ums Eck besser als aus der Dose im Supermarkt. Die Politik höre jetzt auf ExpertInnen und jetzt wo wir so radikale Maßnahmen zustande bringen, werden wir in Zukunft nicht mehr so um Selbstverständlichkeiten, etwa im Kampf gegen die Klimakrise, kämpfen müssen.
Ich verstehe den Wunsch nach Hoffnung, das zieht sich durch die Coronakrise. Ich bemerke, dass manche GesprächspartnerInnen schon längst akzeptierte Fakten der Ausbreitungsgeschwindigkeit und -dramatik des Virus drei Tage später wieder in Frage stellen, weil es gab ja da doch einen 105jährigen Geheilten in Italien und wir haben in Österreich ja viel weniger an Corona verstorbene Menschen als anderswo und überhaupt könne man sich nicht auf das verlassen, was Medien und Politik da gemeinsam berichteten. Da sei ja immer ein bißchen Übertreibung und Attention Grabbing und Zuspitzung dabei.
Ich verstehe den Wunsch nach Besserung einiger ganz gravierender Systemmängel und ich verstehe, dass man hin und wieder der Dystopie entfliehen, sie morgen ganz einfach für beendet erklären und den überraschend schnell entdeckten Impfstoff präsentiert haben will und wir gehen „back to normal“, fliegen weniger, zahlen Pflegekräften mehr, hören in Zukunft der Wissenschaft zu und beteiligen die Reichen auf eine Art und Weise, die ihnen nicht schmecken wird, an den Kosten der Krise.
Nur: das wird wird wahrscheinlich nicht passieren und noch viel weniger wird es von selber passieren. Ich bin kein Virologe und kein Soziologe, ich hab mir nicht alle Dokus zur Spanischen Grippe reingezogen und ich kann Sekundärliteratur nur in Deutsch und Englisch lesen. Ich wüsste gerne, was in dänischen Artikeln über mutmaßlich im Jänner Corona-infizierte Ischgl-Heimkehrer steht, aber ich kann kein Dänisch. Aber ein an Fakten und an harten Kriterien orientierter Blick vor die Haustüre reicht, um festzustellen: Die Welt wird nach Corona ohne eine massive Änderung des Engagements, ohne massive demokratische Bemühungen der BürgerInnen, nicht besser werden. Sondern schlechter.
Faktor 1: Partizipation.
Das hat zum einen einen systemischen Grund: Wenn viele Menschen an politischen Prozessen beteiligt werden, dann kommen bessere Ergebnisse für die breite Mehrheit der Menschen heraus. Nicht, dass das – Stichwort Minderheitenschutz – immer auch ethisch vertretbar ist. Aber je langsamer ein Prozess, desto demokratischer und je schneller ein Prozess, desto undemokratischer. Wenn alle gehört werden, werden am Ende eines demokratischen Prozesses nicht alle zufrieden sein. Aber es werden alle gehört worden sein und blinde Flecken von Politik und Verwaltung ausgeleuchtet. Schauen wir uns Koalitionsverhandlungen an, einen extrem langwierigen politischen Prozess: Das ist ein Prozess mit hochgradiger Partizipation und breiter Einbindung von ExpertInnen und Aufmunitionieren der eigenen Positionen mit allem, was geht. Und selbst in diesem gut austarierten und stark partizipativen und in der öffentlichen Arena stattfindenden und damit auch von der vierten Macht mitbeeinflussten Prozess, kommen völlig ohne echten Zeitdruck am Ende Ergebnisse heraus, bei denen man sich fragt, warum die VerhandlerInnen einer Seite offenbar all ihre Positionen an der Eingangstüre aufgegeben haben. Also: Partizipation spielt eine Rolle für Demokratiequalität. Je mehr, desto besser.
Faktor 2: Zeit.
Und jetzt, in der neuen Corona-Zeitrechnung, jetzt gibt es den Faktor Zeit nicht mehr wie in Koalitionsverhandlungen oder Kollektivvertragsverhandlungen oder Ähnlichem nur als Vorwand, sondern als tatsächliche Notwendigkeit. Sperrst du ein Skigebiet eine Woche später zu, hast du ein paar hundert oder ein paar tausend mehr Infizierte, die den Virus durch halb Europa tragen und dort weitere zehntausende oder hunderttausende Menschen anstecken. Bestellst du die Masken heute nicht auf Vorrat, sind morgen keine mehr da. Vergibst du den Wirtschaftsrettungsfonds nicht heute an eine Institution, die Geld verteilt, hast du morgen 10 Mal so viele Anfragen, übermorgen 100 Mal so viele und überübermorgen 1.000 Mal so viele Anfragen. Lieber schnell den etabliertesten Berater oder langsam die beste Beraterin? Unter Zeitdruck eine leichte (und oft falsche) Wahl.
Schnelle Entscheidungen sind gefragt. Fragt man da noch die Interessensvertetungen der ArbeitnehmerInnen oder der kleinen Gewerbetreibenden oder die Berufsvereinigungen der Betroffenen oder institutionalisierte Gruppen von ExpertInnen? Nein. Ich kenn da wen, der kennt da wen, der (!) macht das schnell, das kriegen wir schon hin, da können wir jetzt nicht warten, da darf uns jetzt niemand bremsen, da sind jetzt Macherqualitäten (Mackerqualitäten?) gefragt, wer schnell hilft hilft doppelt, wer wartet verliert. So fallen unter Zeitdruck viele Entscheidungen.
Man kann das auch unter der Lupe und vor Ort anschauen. Regierungen bestimmen in einer nie dagewesenen Form die öffentliche Agenda. An ihren öffentlichen Auftritten kommt niemand vorbei und selbst wenn sie nichts Neues zu sagen haben, sind die Medien schon da und berichten halt über das nicht Neue, was gesagt wird. In einer Analyse, was die Themensetzung und die Medienpräsenz von Opposition und Regierung beleuchten wird, werden längerübergreifend atemberaubende und nie dagewesene Zahlen für Regierungen herauskommen und die Oppositionen werden kaum vorgekommen sein.
Faktor 3: Kontrolle.
Last not least – Medien als Kontrollorgan: Sie haben aus redaktioneller Logik oft keinen Platz für Dinge abseits der Causa Prima und abseits der von Regierungen mitgebrachten, aufgebotenen und bezahlten ExpertInnen. Sie haben oft selbst mit Engpässen und mit einer völlig ungewissen Zukunft konfrontiert – es inserieren nur mehr die Regierungen und die Lebensmittelmärkte, alles andere bricht weg. Sie haben Tele-Interview-Situationen per Skype oder Zoom, die so wichtige journalistische Fertigkeiten wie Zwischenfragen stellen, spontan auf Widersprüche hinweisen oder ein schnelles Ping-Pong an Fragen und Antworten, verunmöglichen. Und sie werden bei ihrer Arbeit behindert, wenn sie zu kritisch sind. Rezentester Beweis dafür ist der Ausschluss des ZDF und seiner kritischen Fragen von Pressekonferenzen des Landes Tirol und infolge dessen der Ausschluss überhaupt aller nicht-Tiroler Medien von diesen Veranstaltungen.
Ich habe drei Faktoren unter die Lupe genommen, die ich für Voraussetzungen für gute Politik im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung, for the many not the few, halte: 1) Breite Partizipation von Betroffenen(verbänden), von ExpertInnenorganisationen und von gesellschaftlichen Interessensvereinigungen. 2) Nachhaltige Entscheidungen dürfen Zeit brauchen, damit Kriterien wie faire Vergabe öffentlicher Aufträge und (siehe 1) Einbindung möglichst Vieler gewährleistet ist und 3) Gewährleistung der Rolle unabhängiger Medien, die ihrer Kontrollfunktion unbehindert nachkommen können.
Um all diese drei Faktoren sind in der Corona-Krise eindeutig schlechter gestellt als im gesellschaftlichen Normalbetrieb. Die Wiederherstellung dieser drei Faktoren – Partizipation, Zeit und Kontrolle – muss oberste Priorität haben. Und zwar nicht erst nach der Krise: Es muss jetzt, wo immer möglich damit begonnen werden. Das wird nicht überall gehen, weil der Ausnahmezustand keine Erfindung, sondern eine medizinische und gesellschaftliche Notwendigkeit ist.
Der Status Quo Ante Corona wird mit der hoffentlichen Eindämmung des Virus im Sommer nicht automatisch wieder hergestellt werden. Es wird vielmehr enormes Engagement vieler BürgerInnen unter außergewöhnlichen Umständen brauchen, um die Gesellschaft Nach Corona wieder so demokratisch zu gestalten wie jene vor Corona. Und wenn wir das geschafft haben, dann reden wir darüber, was noch alles geht. Aber first things first.
Und es wird v.a. notwendig sein, dass die durch Corona scheinbar oder tatsächlich zusammengeschweißten Koalitionspartner endlich den Dissens pflegen und die Grünen sich ihrer Basisgrundätze erinnern, anstatt zu schweigen oder ohne dauernd „sonst hätt‘ ma halt die Blauen in der Regierung“ zu lamentieren.
Das wird auf Bundes- aber insbesondere auch auf Landesebene eine Notwenigkeit für politische und gesellschaftliche Änderungen sein. Ansonsten: alles wie gehabt.ÖVPWKO werden dafür sorgen.