david gegen goliath vor chicago

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Marie Newman und Dan Lipinski. Bild: http://www.theworldnews.net

Ein Demokrat im tiefblauen Illinois, vor den Türen der liberalen Großstadt Chicago, gegen das Abtreibungsrecht, gegen strengere Waffengesetze, gegen Obamacare und gegen den Dream Act zur Amnestie illegalisierter EinwandererInnenkinder? Den gibt es.

Der seit 14 Jahren für die südwestlichen Vororte von Chicago im dritten Kongressbezirk von Illinois (wir sprechen von 700.000 Menschen in dem Bezirk, also knapp die Größe Tirols) Dan Lipinski vertritt ähnlich konservative Ansichten wie sein Vater. Der war sein Vorgänger und hat seinen Sohn 2004 mit allerlei schwindligen Tricks bei seinem Rücktritt auf den Wahlzettel gebracht, ohne dass der sich selber den Vorwahlen der demokratischen Basis stellen musste. Bill Lipinski war 22 Jahre Kongressabgeordneter, seit 36 Jahren sitzen die Lipinskis auf dem Kongresssitz Illinois 3.

Was bei uns schwer vorstellbar ist, ist in den USA sehr viel üblicher: Mal diese und mal jene wählen und sogar am gleichen Tag einen republikanischen Präsidenten aber einen demokratischen Kongressabgeordneten. Illinois dritter Kongressbezirk wählte 1984 zu 65% den Republikaner Ronald Reagan zum Präsidenten und 64% wählten im selben Bezirk am selben Tag einen demokratischen Kongressabgeordneten. Ein Viertel der Paare sollen laut Umfragen ihre Wahl ’splitten‘. Die sprichwörtlichen „Reagan Democrats“, konservative Menschen aus der ArbeiterInnenschicht die bei Präsidentschaftswahlen republikanisch und bei allen anderen Wahlen demokratisch wählen, gibt es nicht nur in Illinois sondern historisch vor allem im Süden der USA und in industriellen Zonen des mittleren Westens.

36 Jahre saßen die Lipinskis ungefährdet auf dem Kongresssitz, bis Marie Newman kam. Die fand Lipinskis „out of touch“ mit ihrem Wahlkreis, „out of touch“ mit der demokratischen Partei und viel zu nahe an Donald Trump. Und nicht umsonst stand auf den Pickerln ihrer Kampagne „Dump Dan“ – in Anlehnung an den Anti-Trump-Ausruf „Dump Trump“. Mit an ihrer Seite hatte Newman die gesamte Prominenz des linksliberalen Flügels der demokratischen Partei: Von Bernie Sanders bis zur möglichen Präsidentschaftskandidatin Kirsten Gillibrand, Senatorin aus New York. Von sämtlichen LGBT-Organisationen ebenso unterstützt wie von sämtlichen Frauen- und Gesundheitsorganisationen vom Emily’s List bis Planned Parenthood. Selbst als Gründerin einer Anti-Bullying-Initiative an Schulen und als frühere Sprecherin der Anti-Waffen-Lobby „Moms Demand Action“ aktiv, ist Marie Newman eine linksliberale politische Allzweckwaffe. Und so kommt Marie Newman im sozialkonservativen dritten Kongressdistrikt bei extrem hoher Wahlbeteiligung von 90.000 Stimmen bei den demokratischen Vorwahlen (!) (zum Vergleich: Hillary Clinton hatte am Wahltag 150.000 Stimmen im Bezirk) auf… 49 Prozent. Knapp 2.000 Stimmen fehlen ihr, um den vererbten Lipinski-Sitz für progressive DemokratInnen zu erobern und einen der letzten demokratischen Gegner von Frauen- und Homosexuellenrechten aus dem Kongress zu katapultieren. 51%: das ist das schlechteste Lipinski-Ergebnis seit 36 Jahren – und gewählt wird der Kongress jedes zweite Jahr.

What’s the bigger picture? In der demokratischen Partei tobt noch immer ein Kampf der linksliberalen – vereinfacht – Sanders-Fraktion gegen die zentristische – vereinfacht – Clinton-Fraktion. Das hat zwar mit den beiden AkteurInnen persönlich wenig zu tun, aber die großen Risse sind bei den Vorwahlen 2016 noch deutlicher geworden als bei jenen 2008 zwischen Obama und Clinton. Neben den unmittelbaren persönlichen Ambitionen vieler PolitikerInnen auf Mandate und neben politisch-inhaltlichen Fragen streitet die demokratische Partei auch aus strategischen Gründen über die Frage, ob linke oder ob mittige KandidatInnen aussichtsreicher für Wahlsiege sind. Das treibt so eigenartige Blüten wie, dass das demokratische Nationalkomitee (quasi „Bundespartei“) über eine linke Kandidatin bei parteiinternen Vorwahlen für einen Kongressitz in den Vororten von Houston in Texas Dossiers mit deren Schwächen veröffentlichten, um die demokratischen VorwählerInnen zu strategischem Wählen „mittigerer“ KandidatInnen in dem Wahlkreis zu ermuntern. Und in Kalifornien gibt es einen Kongressitz, bei dem so viele demokratische KandidatInnen antreten wollen, dass aufgrund des Wahlsystems zwei RepublikanerInnen in die Hauptwahl kommen könnten, weil sich die (mutmaßlich) demokratische Mehrheit auf so viele KandidatInnen aufteilt.

Angeschlossen an die Wählbarkeitsfrage ist auch eine Strategiefrage für die nächste Präsidentschaftswahl: Das mit den fixen Staaten ist zwar so eine Sache nach Trumps Wahlsieg – aber selbst bei vorsichtigster Rechnung fehlen den DemokratInnen zu ihren fixen Staaten vier oder fünf Swing States zur Rückeroberung des Weißen Hauses. Und die können entweder im industriellen Mittleren Westen liegen, wo Trump überraschend abgeräumt hat: bei den sozialkonservativen FabriksarbeiterInnen und deren Kindern, von denen die meisten zwar verteilungs- aber nicht gesellschaftspolitisch DemokratInnen sind. Für die bräuchte es einen sehr mittigen Wahlkampf mit viel Klassenkampf und mit wenig gesellschaftspolitischen Akzenten. Strategie zwei sind die Staaten im Süden mit schnell wachsenden Latino- und African American-Communities. Hier sind aber gesellschaftspolitische Fragen ein starkes Motiv zur Mobilisierung. Und weil’s noch nicht kompliziert genug ist, stellt sich auch noch die Frage „bei WählerInnen in der Mitte fischen“ oder „NichtwählerInnen links der Mitte an die Wahlurne bringen“.

Es gibt also ein paar ziemlich spannende Trends und ein paar ziemlich schwierige Fragen, die die demokratische Partei am Weg zurück ins Weiße Haus und zu einer Mehrheit im Kongress zu beantworten haben wird. Marie Newman, die fast erfolgreiche Herausforderin der Lipinski-Dynastie will 2020 wieder antreten. Und sie sagt: Ihr Erfolg sei schon jetzt, dass sich Dan Lipinski in wesentlichen Fragen – Stichwort Gesundheitsvorsorge – deutlich nach links bewegen haben müsse. Da wird wohl was dran sein.

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