Meine FreundInnen aus dem echten Leben können getrost wieder wegklicken: Das hab ich euch schon längst drei Mal erzählt. Aber die lange Nacht der ungeschriebenen Blogposts (#LNUBP) hat mich motiviert, endlich niederzuschreiben, was ich in den letzten Wochen immer wieder erzählt hab.
Claude M. Steele ist ein US-amerikanischer Sozialpsychologe. Ende der 60er-Jahre war er einer der wenigen African Americans auf seinem College. Als er wenig später Lehrender wurde, hat Steele fasziniert beobachtet, dass afroamerikanische Studierende trotz gleich guter Ergebnisse bei ihren SAT-Tests (quasi eine standardisierte Matura nach der High School) in wesentlich größerem Ausmaß im Studium versagten, als weiße Studierende. Nachdem er nicht an „natürliche“ Begabungsunterschiede entlang von Hautfarben glaubte, hat er Ursachenforschung betrieben.
Minigolf-Versuche. Zeitsprung, 10 Jahre später: Steele ist mittlerweile ein renommierter Sozialpsychologe und sitzt auf einem gut ausgestatteten Lehrstuhl. Er beginnt, Prüfungssituationen zu erforschen. Sein Forschungsteam lässt weiße und afroamerikanische Studierende Minigolf spielen, und zwar in zwei verschiedenen Versuchsanordnungen: In einer Versuchsreihe sagte er den Studierenden davor, es gehe um „natural athletic ability“. Dem Klischee zu Folge sind AfroamerikanerInnen „natürlich“ sportlicher, als Weiße. Tatsächlich schnitten die AfroamerikanerInnen beim Minigolfspielen in dieser Versuchsanordnung auch besser ab, als ihre mehrheitsangehörigen weißen KollegInnen. In einem zweiten Versuch ließ Steele die Studierenden den gleichen Minigolf-Kurs spielen – nur jetzt mit der Information, der Test diene dazu, „sports intelligence“ zu messen: Eine Fähigkeit, die landläufig Weißen stärker zugeschrieben wird. Und tatsächlich: In dieser Versuchsanordnung schnitten Weiße wesentlich besser ab, als AfroamerikanerInnen. Die exakt selbe Aufgabe wurde von den beiden Gruppen also je nach einem Satz, den sie auf den Weg mitbekamen, entlang der Vorurteile besser oder schlechter gelöst.
Gender-Tests. Das Team von Steele schlussfolgerte, es müsse sich um eine Reaktion auf eine Bedrohungssituation handeln. Einige Jahre später entdeckte sein Team das Gender-Thema: Würden auch an sich laut SAT gleich naturwissenschaftlich begabte Frauen in klischeegeladenen Situationen mit schlechteren Leistungen reagieren, als Männer sie erbringen? Der Versuch funktionierte so: Frauen und Männer sollten einige schwierige Mathematik-Aufgaben bewältigen. In einer Versuchsreihe wurden die Fragebögen unkommentiert ausgeteilt – für die Studierenden war klar: Es geht um eine Mathematik-Übung. Die dabei laut gängiger Klischees weniger begabten Frauen schnitten in mehreren Versuchsanordnungen schlechter ab.
Jeder Mann weniger hilft. Aber Steeles Team fand einen Weg, eine Testsituation zu schaffen, in dem der Geschlechter-Bias aufgefangen wurde. Sein Team gab den Studierenden vor der Übung folgende, völlig frei erfundene, Information mit: „Ihr wisst ja, dass Frauen normalerweise schlechter bei Mathematik-Tests abschneiden. Aber dieser Test ist so konzipiert, dass er den Gender-Bias wettmacht. Das haben wir auch schon in mehreren Versuchsreihen getestet und bestätigt, dass Frauen nicht benachteiligt sind.“ Das Ergebnis: Männer und Frauen schnitten beim gleichen Test wegen dieser drei Sätze nicht entlang der Klischees unterschiedlich, sondern gleich gut ab. Die Mathematik-Situation spitzen Claude M. Steele und sein Team noch zu: Sie setzten 10 Männer und 10 Frauen für einen Mathematik-Test in den selben Raum, dann 10 Frauen und 9 Männer, 10 Frauen und 8 Männer und so weiter. Das faszinierende Ergebnis: Mit jedem Mann weniger, der im Raum saß, wurden die Ergebnisse der Frauen besser. Die mit weniger Männern im Raum besser werdenden Ergebnisse der Frauen korrelierten auch mit sich der normalen Frequenz annäherndem Pulsschlag – auch das haben die SozialpsychologInnen untersucht und einen linearen Zusammenhang zwischen Klischee-Bedrohung, Pulsfrequenz und Leistungen gemessen.
Keine Glaskuppel. Diese sozialpsychologischen Ergebnisse sind mittlerweile gut abgesichert. Das Konzept heißt „stereotype threat“, Bedrohung durch Stereotype: in einer Situation, in der eine Testgruppe einem Klischee entsprechend schwächer ist und somit einer Bedrohung einer negativen Bestätigung von Stereotypen ausgesetzt wird, wird das Klischee zur „self-fulfilling prophecy.“ Ganz so einfach, wie in den Versuchsanreihungen von Claude M. Steele ist die Überwindung dieser Klischeefallen natürlich nicht – die Welt lässt sich nicht unter eine Glaskuppel stellen. Aber die bloße Erkenntnis, dass Leistungen und Schwächen durch solche minimalen, kurzfristigen unterbewussten Einflüsse provoziert oder eben ausbalanciert werden können, macht pädagogische Welten in der geschlechtsspezifischen Pädagogik und in der Integrations-Arbeit auf.
Darüber hat Claude M. Steele natürlich in „Whistling Vivaldi“ auch geschrieben. Aber dafür brauch ich mehr Zeit, als bis zum Anpfiff des Nationalteams gegen die Fähringer bleibt. Und dafür hoff ich, ganz banal, dass Marcel Kollers SozialpsychologInnen ganze Arbeit leisten.