Das Ende der Zweiten Republik ist mit der Selbstdemontage des türkisen Freundeskreises und dessen bereits in Raten erfolgten Rücktritts abgesagt. Kanzler Schallenberg ist nur eine Zwischenlösung, sein Pendant beim kleinen Koalitionspartner abgetaucht, die Ärztin an der roten Parteispitze kommt in der größten Gesundheitskrise der Zweiten Republik nicht über schwache 25% hinaus. Alle drei werden sich bei der nächsten Wahl nicht um das (Vize)-KanzlerInnenamt bewerben. Was kommt also dann, wenn das katastrophale Corona-Management der Bundesregierung, mit dem 75% (!) der ÖsterreicherInnen unzufrieden sind, die Personalfragen aufmacht? Niemand will am Höhepunkt der Krise übernehmen, niemand zu knapp vor der planmäßigen Wahl 2024. Aber klar ist: Die Nach-Türkis-ÖVP will eine Türkis-ÖVP ohne Korruption sein, oder sagen wir: ohne Korruption in den Schlagzeilen. Die Nach-Kogler-Grünen werden ein Angebot stellen müssen, das die Klimafrage in den Mittelpunkt stellt und in Sachen Rechtsstaat glaubwürdig bleibt. Und die Nach-Rendi-Wagner-SPÖ braucht jemanden, der/die glaubwürdig KanzlerInnenformat hat, Krisenbewältigungskompetenz vermittelt und glaubwürdig (!) die soziale Frage in den Mittelpunkt stellt.
Die Personensuche ist nur eine Krücke für die zentralere Frage der inhaltlichen Orientierung, aber sie gibt einen Hinweis, deswegen bleiben wir da noch kurz. Niemand aus der MinisterInnenriege von türkisen Gnaden kann Schallenberg folgen, wenn ein Schlussstrich unter die offensichtliche Korruption gezogen werden soll. Es bleiben profilierte LandespolitikerInnen, von denen sich gerade zwei politisch verbrannt haben, denen vor kurzem noch – wie sich herausstellen sollte, zu Unrecht – das entsprechende Format zugebilligt wurde. Bleiben eigentlich nur Wallner und Mikl-Leitner aus der ersten Reihe. Letztere könnte sich im Frühjahr 2023 als Landeshauptfrau wieder wählen lassen, rasch übergeben und die Bundespartei übernehmen. Das wäre auch ein Weg, den eine der beiden in der SPÖ möglichen Varianten gehen könnte: Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser will auch im Frühjahr 2023 wieder gewählt werden und könnte dann in den Ring ums KanzlerInnenamt steigen. Die rote Wild Card ist Wiens Bürgermeister, der neuerdings nota bene auch von der sogenannten bürgerlichen Presse zum besten Krisenmanager des Landes gekürt wurde. Aber es ist noch nie ein Wiener Bürgermeister Kanzler geworden. Weil das eine bist du für sehr lange, wenn du’s nicht ganz blöd anstellst. Und zum anderen bitte die Herrschaften Gusenbauer, Faymann und Kern fragen.
Dieser Beitrag heißt aber nicht „wer“, sondern „was“ kommt nach Schallenberg und Kogler, weil die inhaltliche Ausrichtung viel wichtiger ist, oder umgekehrt: Weil die politische Zugkraft einer Person auch maßgeblich davon abhängt, ob man maßgeschneiderte Themen in der Tasche hat. Deshalb ist es unerheblich, ob die mögliche ÖVP-#1 Johanna Mikl-Leitner schwarz oder türkis ist und ob die mögliche SPÖ-#1 Peter Kaiser gerade trachtenjankrig oder philosophiepromoviert aufgelegt ist. In der Politik ist es immer ein Vorteil, beides zu können. Aber entscheidend ist, in welchem Land wir dann leben, in welcher Nachbarschaft, in welcher Welt und welche Themen dann jenseits der Tagespolitik dominieren. KommentatorInnen nennen das „Großwetterlage“ und es ist auch ungefähr so unbeeinflussbar für die kleinen MaxlInnen vor Ort – aber es gibt kein schlechtes Wetter, sondern nur schlechte Ausrüstung. Insofern kann man sich schon rüsten, in Kenntnis der Parameter, die da folgen.
Zwei Länder sind immer ein politischer Referenzrahmen, der österreichische Debatten bestimmt. Ein Mal der große Nachbar und ein Mal der Dominator der westlichen Welt. Ob die deutsche Ampel ein Modell ist, an dem sich österreichische Parteien in ihrer Ausrichtung orientierten, das wird nicht nur von deren effektivem Erfolg sondern auch von deren Image abhängen. Es wird den drei Regierungs-Spitzenmännern (übrigens, wtf) Scholz, Habeck und Lindner herzlich egal sein, was 2024 in einem schluchtigen Land der Größe eines mittleren deutschen Bundeslandes passiert. Aber ob die deutsche Ampel Sehnsüchte nach der langweiligen Stabilität der Merkel-Ära weckt oder ob sie wegen politischen Erfolgs, Aufbruchsstimmung und großen Schritten bei Klimaschutz, Innovation und sozialer Frage, ein positiver Bezugspunkt der internationalen Debatten ist, das wird auch die Ausrichtung der drei österreichischen Schwesterparteien und jene des rot-weiß-braunen Rechtsblocks definieren. Erinnern wir uns nur an den enormen Hype um Frankreichs Präsidenten Macron nach dessen Wahl. Obwohl niemand wirklich sagen konnte, wofür der steht, außer irgendwie nicht rechts und nichts links. Trotz der kompletten Inhaltsleere wollten nach dessen Siegen auf einmal alle, der türkise Vorbeter, der rote Kanzler und der rosa Bäumeumarmer, wie Macron sein.
Ob beide Herrschaften Biden und Trump Österreich überhaupt auf der Landkarte finden, das ist offen. Aber ob nach den Parlamentswahlen im Herbst 2022 in den USA wieder alle Zeichen auf Trump stehen oder ob die progressive Agende von Joe Biden sich durchsetzt (Chance momentan, 1:10), das macht auch was mit dem politischen Klima, mit den Hoffnungen und mit den Schwerpunkten der politischen Debatte in Europa. Es hat die Sinne der mitteleuropäischen Öffentlichkeit für die Endlichkeit der Demokratie sehr geschärft, dass Trump da war, dass er der Demokratie an den Kragen wollte und die politischen Parallelen zu türkisen Partie so offensichtlich war. Und dann wären da noch das prominenteste östliche Nachbarland: Ob sich Viktor Orbán an der Macht halten kann, ohne anzufangen, massenhaft Leute einzusperren, ist offen. In einer Autostunde (Züge gibt’s in dieser Region nicht, sagt man) ist ein Drittel der ÖsterreicherInnen in Ungarn. Was dort passiert, ist von hoher Relevanz für die Alpenrepublik.
Und neben den externen Faktoren, oder bedingt durch sie, könnte last not least auch in Österreich etwas ganz Neues passieren: Eine Dynamik wie im deutschen Parteiensystem, in der die beiden linksliberalen Kleinparteien mit jeder der beiden ehemaligen Großparteien mehrheitsfähig sind und damit das Tempo machen, ist denkbar. Dreißig Jahre lang haben ÖVP und SPÖ in Österreich nach rechts geschielt und haben sich programmatisch an die FPÖ angepasst – zuletzt mit dem augenscheinlichen Farbschwenk auf Türkis die einen noch deutlich mehr, als die anderen. Wenn die Blöcke bleiben, wie sie momentan stehen – ein Viertel Rot, ein Viertel Schwarz, ein Viertel Blau, ein Viertel Grün/Pink – dann könnte das bei mutigen politischen Ansagen (!) und bei dadurch erst möglichen günstigem Wahlausgang, eine Zeitenwende sein. Und da geht’s um ein paar wenige Prozent: Lassen wir Rot und Schwarz je 27% machen. Ob dann Blau 24% und Grün/Pink 21% hat oder umgekehrt, da liegen Welten dazwischen, obwohl es „nur“ 3% sind. In Deutschland war das so: Da haben sich zuerst die beiden kleinen linksliberalen Parteien auf Eckpunkte geeinigt und dann die mittelgroßen ehemaligen Volkparteien gefragt, wie weit sie mit können.
Oder plastischer: Ob Gewessler und Meinl-Reisinger oder ob Kickl die KanzlermacherInnen sind und die wesentlichen Programmpunkte der nächsten österreichischen Bundesregierung definieren, egal ob Kaiser, Ludwig, Mikl-Leitner oder Wallner sich danach KanzlerIn nennen dürfen, das kann der Unterschied zwischen Post-Demokratie und moderner, sozial-ökologischer Innovationsrepublik sein. Ich wäre für Letzteres.