
Es bleibt eine kleine Restwahrscheinlichkeit, aber eigentlich ist es nur eine Frage der Zeit: US-Präsident Joe Biden wird im November höchstwahrscheinlich nicht der Kandidat sein, der eine erneute Machtergreifung Donald Trumps zu verhindern versucht. Sein desaströser Auftritt bei der TV-Debatte vor einer Woche hat die ohnehin mittelmäßigen Umfragewerte noch einmal deutlich verschlechtert. In den Umfragen dreier großer und angesehener Institutionen – von CNN, der New York Times und dem Wall Street Journal – liegt Biden heute 6-8% hinter Trump. Und wenn man mitbedenkt, dass aufgrund der Wahlarithmetik Demokrat*innen 2% vorne sein müssen, um bei den entscheidenden Wahlleuten auf Augenhöhe mit den Republikaner*innen zu sein, heißt das: Joe Biden fehlen 10%, um in den nächsten vier Monaten die Welt ein zweites Mal vor Donald Trump zu retten. Das geht sich höchstwahrscheinlich nicht aus. Und das wissen die Demokrat*innen.
Dass alles, was nach so einer TV-Debatte an Konsolidierung nach innen notwendig wäre, ausgeblieben sein soll, das stärkt das Vertrauen seiner Partei in die Manövrierfähigkeit der Person Biden und in die Kompetenz der ihn umgebenden Berater*innen auch nicht. Weder habe Biden die wichtigen Meinungsmacher*innen innerhalb der Partei persönlich angerufen und sie auf seine Kampagne einzuschwören versucht. Noch hat er eine Tour durch alle Medien gestartet, um zu beweisen, dass Mittwochnacht nur ein Aussetzer war und nicht sein Dauerzustand. Genau das zu beweisen hat, als Cherry on Top einer ohnehin katastrophal verlaufenden öffentlichen Debatte über seinen Rückzug, dann auch noch die demokratische Ikone Nancy Pelosi, öffentlich von ihm gefordert. Michigans demokratische Gouverneurin Gretchen Whitmer, ein politisches Schwergewicht und eine Zukunftsaktie der Partei, wurde damit zitiert, ihr Bundesstaat sein für Biden nicht mehr gewinnbar – das ist aber ein Must-Win, ohne den es keinen plausiblen Pfad für Biden ins Weiße Haus gibt. Und dann haben noch enge Verbündete Bidens wie der Abgeordnete Clyburn und Senator Whitehouse öffentlich die Frage nach Bidens Amtsfähigkeit offen lassen oder sogar aktiv gestellt. Ein vollkommenes Desaster, das auch Ausdruck von Kontrollverlust des Präsidenten und seines Teams über die Kampagne und die Partei ist.
Wenn jetzt nicht von irgendeiner Wolke ein Obama oder Clinton herunterfällt, der noch einmal mit all seinem politischen Gewicht die Debatte zu beenden versucht, dann ist der Rückzug Bidens von der Kandidatur keine Frage des „ob“, sondern nur eine des „wann“ und des „wie“.
Es geht nichts ohne Vizepräsidentin Kamala Harris. Sie ist seine legitime politische Erbin. Wenn sie will, dann wird ihre Partei sie zur Kandidatin machen müssen. Auch wenn ihre Persönlichkeitswerte ausbaufähig und ihre Umfragen schlechter wie etwa jene einer Michelle Obama sind. Würde man Harris allerdings übergehen oder wegloben, müsste sich die Demokratische Partei schon auch die Frage gefallen lassen, ob die beiden Spitzen ihrer Partei in den höchsten Ämtern des Staates eigentlich ungeeignet waren und warum man denn jetzt den Herrn X oder die Frau Y, die stattdessen kommen, für geeigneter halten soll.
Insofern, wahrscheinlichste Variante: Harris übernimmt nächste Woche das Zepter der Kandidatur von Biden. Als Präsident bleibt Biden: Denn würde Harris Präsidentin, müssten die Demokrat*innen eine*n neue*n Vize durch beide Häuser des Kongresses bringen – und im House haben sie keine Mehrheit. Praktisch würde man die drei, vier notwendigen Stimmen schon bekommen. Aber es gibt eigentlich keine Notwendigkeit für diese Zusatzaufgabe. Es wird Arbeit genug, eine mittelmäßig beliebte Politikerin mit leichtem Rückstand in den Umfragen auf Spitzenkandidatin zu trimmen, die Partei hinter ihr und einem Vize-Kandidaten (das wird ein weißer Mann) zu versammeln und die Rettung der Welt vor Donald Trump in vier Monaten auf die Beine zu stellen.
Thematisch stehen die Chancen dafür nach wie vor gut: Neben all dem Wirbel darf man nicht vergessen, dass die US-Amerikaner*innen sehr stark entlang der wirtschaftlichen Lage und anderer sie unmittelbar betreffenden Themen wählen und abwählen. Stärkstes Wahlmotiv der Wahlgänge in den letzten zwei Jahren war regelmäßig das von Donald Trumps Gericht durchgedrückte Ende bundesweit möglicher Schwangerschaftsabbrüche. Dazu kommt das letzte Urteil des Trump-Höchstgerichts, das für dessen politischen Aktivitäten als Präsident Immunität zugesagt hat, auch ein Mobilisierungsfaktor für demokratische Wähler*innen. In ihrer abweichenden Begründung zur Ablehnung dieses Urteils hat eine der beiden von Obama nominierten Höchstrichter*innen geschrieben, sie lehne es ab, einen Präsidenten zum König zu machen – „in fear for our democracy.“
Wenn die amerikanische Demokratie gefährdet ist – und das ist sie ohne Zweifel – dann sind es auch die anderen Demokratien auf der Welt: Wegen ähnlicher politischer Phänomene, aber auch unmittelbar, weil ein verlässlicher Partner wegfällt und ein Unberechenbarer oberster Kommandant der größten militärischen Streitmacht der Welt wird.
Das können die Demokrat*innen verhindern: Sie sollten es mit dem besten realistisch möglichen Team tun. Und da hat Joe Biden nur mehr die Rolle als outgoing president.