
Es gibt begründeten Zweifel an den Umfragen, in denen mal der eine, mal der andere Kandidat vorne liegt. Aber Tatsache ist, einen Monat nach Trumps Verurteilung: das hat das Rennen ums Weiße Haus nicht gedreht. Ein Deep Dive der „New York Times“ mit Wähler*innen, die im Herbst gesagt hatten, sie würden Trump doch nicht wählen, würde er verurteilt werden, zeigt warum: Diese Wähler*innen sagen, sie hätten ein anderes Verfahren als das Schweigegeld-Verfahren gemeint, als sie die Antwort gegeben hatten.
Ob das eine Ausrede ist oder nicht: Wir haben nach wie vor ein ganz knappes Rennen. Donald Trump setzt voll auf Bidens augenscheinlich hohes Alter: das machen Umfragen als Bidens größte Schwäche aus und Trumps Lager bringt ununterbrochen echte und gefakete Videos, in denen Biden wenig subtil in Situationen gezeigt wird, die sein hohes Alter betonen sollen. Aber auch von Trump kursieren Videos mit Namensverwechslungen und eingefrorenen Momenten. Tatsache ist jedenfalls, dass beide Kandidaten keine 60 mehr sind. Aber weil Trump das Temperament eines 5jährigen hat, wirkt er gefühlt viel jünger als der staatstragende Biden.
Bei den Dems herrscht die Überzeugung vor, dass man programmatisch eine Mehrheit auf seiner Seite habe – und Trump mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch schlagen kann. Und tatsächlich haben seit dem Ende des US-weiten Verbots von Schwangerschaftsabbruch-Verboten vor zwei Jahren die Dems bei allen Wahlen stärker abgeschnitten, als man das aufgrund früherer Wahlergebnisse in den jeweiligen Wahlkreisen annehmen könnte. Das Thema ist für junge Wähler*innen, bei denen die Dems ein Mobilisierungsproblem haben, zentral. Und viele von ihnen erleben in den knapp 20 Bundesstaaten, die Abbrüche inzwischen verboten haben, welch enormer Aufwand und welches Risiko es jetzt für Frauen bedeutet, ihre Schwangerschaft in einem anderen Bundesstaat oder illegalisiert zu beenden.
Aber weil die Umfragen so weit auseinanderliegen, ist eine seriöse Prognose momentan schwierig. Gäbe es die Umfragen nicht, sondern nur die Wahlergebnisse der letzten zwei Jahre, würden alle von einem klaren Biden-Sieg ausgehen. Und heute Nacht treffen sich die beiden ein von insgesamt nur zwei Malen bis November, zu einem direkten TV-Duell, mit strikten Regeln: Mikros sind aus, wenn du nicht dran bist, strenge Redezeitbeschränkung, kein Publikum.
Worauf alle schauen: leistet sich einer der Kandidaten einen groben Fehler, einen wilden Versprecher, ein Blackout? So etwas könnte Einfluss auf das Rennen nehmen. Aber insgesamt steht es ca 50:50 und daran wird sich bis November wenig ändern, weil die Polarisierung so stark ist. Ich bleibe bei 90:10 für Biden, weil ich glaube, dass die jetzt skeptischen Dems zum Wählen dann zurückkommen, je näher der Wahltermin kommt und je klarer der Kontrast zwischen Demokratie und Trumpokratur wird.