sarah palin ohne lippenstift

Er wohnt nicht in Alaska und behauptet auch nicht, von dort nach Russland zu sehen. Er ist nicht so patschert und ‚folksy‘, also bodenständig, wie Sarah Palin. Er ist auch nicht so unversiert auf der Weltkarte. Also: natürlich ist der republikanische Vizepräsidentschaftskandidat Paul Ryan nicht Sarah Palin ohne Lippenstift. Aber seine Wirkung ist wie die, von Sarah Palin ohne Lippenstift.

  1. Polarisierung

Der Vorteil an Mitt Romneys Wahl: Die republikanische Basis, die eigentlich schon seit Wochen von Tür zu Tür gehen sollte, um in den knappen Bundesstaaten Hände zu schütteln und um Stimmen zu werben, wird jetzt damit anfangen. Denn Paul Ryan hat die Parteilinie als Vorsitzender des Budgetausschusses im Parlament geprägt. Er ist als ‚fiscal conservative‘ bekannt geworden und ist als solcher genau auf der Linie der mächtigen Tea Party, einer radikalen Fraktion innerhalb der Republikanischen Partei. Wenn die Tea Party und die Evangelikalen zu rennen beginnen, könnte das Rückenwind für’s Republikanische Präsidentschaftsticket erzeugen. Nicht zuletzt durch die enthusiastische Unterstützung der Evangelikalen hat George W. Bush 2000 Al Gore haarscharf geschlagen. Andererseits: Die DemokratInnen, die bisher noch nicht gerannt sind, rennen jetzt auch. Denn Paul Ryan vertritt von Kürzungen bei öffentlichen Dienstleistungen (siehe 3.) bis zu strengen Strafen für Schwangerschaftsabbrüche so ziemlich alles, was für Obamas Partei tabu ist.

  1. Die Landkarte ist neu

Die Entscheidung für einen weißen Midwesterner als ‚running mate‘ gibt Mitt Romney Hoffnung, in den Midwestern States Boden gutzumachen (das sind die mit Pfeil markierten) und mit Paul Ryans Heimatstaat Wisconsin vielleicht sogar einen Staat zurück ins Spiel zu bringen, den die DemokratInnen eigentlich schon für gewonnen hielten. Die Frage, wer in den ’swing states‘ vorne ist, dominiert die Wahrnehmung der Chancen der Kandidaten sehr stark und da hat Obama im Moment (siehe Karte) deutliche Vorteile. Zweiter Effekt: Für die eingekreisten Swing States ist Paul Ryan nicht die richtige Wahl. Einerseits, weil viele RepublikanerInnen auf einen spanischsprachigen Vizepräsidentschaftskandidaten gehofft hatten. Das ist gerade in New Mexico, immer mehr auch in Colorado, in Nevada und in Florida ein Kriterium. Die Latino-Community ist in den letzten Jahren unter anderem aufgrund der strikten Haltung der RepublikanerInnen in Fragen der illegalen Einwanderung stark ins demokratische Lager gerückt. Verliert Romney in Colorado, Nevada und New Mexico, muss er Ohio, Florida und einen dritten großen Midwestern State (Michigan, Wisconsin, Minnessota) gewinnen. Und andererseits ist Paul Ryan für die eingekreisten Staaten keine gute Wahl weil – siehe 3.

  1. And don’t forget about health care

Barack Obama hat ein Problem bei weißen, männlichen Wählern zwischen 45 und 60. Würden die ausgeglichen wählen, könnte man sich den Urnengang im November sparen. Sie wählen aber nach momentanen Prognosen zu 65% republikanisch. Aber sie sind in einem Alter, in dem sie Paul Ryans Budgetpläne massiv treffen können. Sowohl die Gesundheitsvorsorge für ältere Menschen, „Medicare“, als auch die Allgemeine Gesundheitsversicherung „Obamacare“, will Ryan kippen. Und ist dabei viel expliziter, als Romney, der selbst in den Vorwahlen damit zu kämpfen hatte, als Gouverneur in seinem Heimatstaat Massachussets eine liberale Gesundheitsreform durchgeführt zu haben. Dem hat das ‚repeal Obamacare on day one‘ niemand so richtig abgenommen. Bei Paul Ryan gibt’s da keine Zweifel. Und das könnte eine Trumpfkarte für den Präsidenten in einer entscheidenden Zielgruppe sein – bei den weißen Männern über 45.

Und, vielleicht noch wichtiger, ein geographischer Aspekt: In Florida leben mehr PensionistInnen als in allen anderen Bundesstaaten. Florida ist seit dem Skandal um die nicht erfolgte Neuauszählung im Jahr 2000 vielleicht der ‚battleground state‘ schlechthin. Wenn Romney Florida verliert, gibt’s fast kein Szenario für einen Wahlsieg am 5. November. Und genau dort sitzen besonders viele WählerInnen, die von Ryans Pläne zur Kürzung der staatlichen Gesundheitsvorsorge betroffen wären. Polit-Afficionados werden sich erinnern: 1. Change vs. more of the same, 2. It’s the economy, stupid, 3. And don’t forget about health care. Das stand auf den Schildern, die der legendäre James Carville seinem Chef Bill Clinton 1992 als permanentes Memo über den Schreibtisch gehängt hat. Der letzte Punkt rückt jetzt nach der Ryan-Nominierung in den Mittelpunkt der Wiederwahl-Kampagne des Präsidenten. Ryan ist, wie einst Sarah Palin, ein ‚game changer‘.

Damit ist auch der Fokus endlich dort hin gerückt, wo ihn die demokratischen StrategInnen haben wollten. Eine Abstimmung über die Arbeitslosenzahlen könnten sie unter Umständen verlieren, so das Credo von Axelrod und Co. Eine Richtungsentscheidung zwischen radikalen Kürzungen bei öffentlichen Leistungen und einer Weiterentwicklung liberaler Sozialstaatskonzepte, würden sie nicht verlieren. Forward oder Backward, heißt das seit Monaten in der Kampagnensprache der Chicagoer Headquarters – Palin ohne Lippenstift ist ein Geschenk für den Präsidenten.

3 Gedanken zu „sarah palin ohne lippenstift

  1. interessante analyse, die sich an den interessen der wählerInnen orientiert. fraglich ist, ob die wählerInnen nach ihren interessen wählen. man hört, dass die healthcare-reform obamas unbeliebt ist und sie viele – wenn sie nach einer gesamtbeurteilung gefragt werden – ablehnen. wenn man dann nach den einzelnen maßnahmen der healthcare-reform fragt, werden diese positiv beurteilt. im moment der stimmabgabe gewinnt die logik nicht immer (vielleicht sogar selten). turkeys voting for christmas … die republikaner haben noch nicht verloren.

    • danke für die ergänzung in der analyse, ich hab in einer facebook-diskussion das geschrieben. post ich hier noch mal her, weil’s so witzig ist, dass uns der gleiche gedanke kommt. und drangehängt, warum ich eben doch glaub, dass ryans nominierung eine vorentscheidung zu gunsten der demokratInnen ist:

      „das paradoxe ist eher, dass die meisten nicht religiös oder anderwärtig ideolgisch durchgeknallten amerikanerInnen die unmittelbaren leistungen des sozialstaats sehr wohl schätzen, aber nicht die großen überschriften. es gibt regelmäßig zustimmungsraten von über 60% zur pflichtgesundheitsversicherung der arbeitgeberInnen, einem herzstück von obamacare, aber obamacare selbst hat 60% ablehnung.

      aber was in meinem blogpost vielleicht zu wenig herauskommt: ich halt das für eine ideologisierung des wahlkampfs, die den demokratInnen in einer schwierigen wirschaftlichen zeit nur zu gute kommt. wenn auf einmal nicht mehr das eine oder andere prozent mehr arbeitslosigkeit entscheidend ist aufgrund des neuen framings, sondern die grundsätzliche frage nach der richtung, in der die öffentliche vorsorge und verantwortung gehen soll.“

  2. Pingback: mit updates: ein jahr usa-blog | querg'schrieben

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